II. VITRUVS PROPORTIONSFIGUR
Vitruvs Angaben zu den Proportionen des menschlichen Körpers (De
architectura, 3.1.1-7., vgl. Appendix 1) geben keine direkte Rechtfertigung für
ihre Auslegung im Sinne einer metaphysisch begründeten Proportionsästhetik.
An anderer Stelle, im Vorwort zum neunten Buch, vergleicht Vitruv zwar die
Funktion von Maschinen mit den mechanischen Abläufen des Weltalls, doch
ignoriert er in seiner Auseinandersetzung mit dem enzyklopädischen
Wissenschaftsbegriff den ursprünglich bei Poseidonios formulierten kos-
mologischen Ursprung dieser Anschauung (1.1.12.).1 Wenn man der Vitru-
vischen Proportionsfigur trotz dieser zwiespältigen Haltung eine kosmische
Dimension geben will, so kann dies nur durch Bezug auf die suggestive
Symbolkraft der beschriebenen geometrischen Figuren, die Symbolik der
ausgebreiteten Arme des homo ad quadratum oder die Analogie zwischen
Tempel, Mensch, und Himmel geschehen.2 Interpretationen dieser Art sind
jedoch sehr vage, gehen an dem überwiegend technischen Charakter der
Ausführungen Vitruvs vorbei und sagen nichts über das in ihnen formulierte
Architekturverständnis aus. Daher wird in den folgenden Ausführungen
versucht, die Proportionsfigur Vitruvs in den theoretischen und praktischen
Zusammenhang der von ihm entwickelten Baulehre zu stellen. Zu Beginn
dieses Versuchs steht dabei die Erörterung der antiken Metrologie, deren
Verbindung zu den von Vitruv beschriebenen Proportionen in den letzten
Jahren diskutiert worden ist.3 Es folgt die Erörterung der baupraktischen
Relevanz der Metrologie und ihres Zusammenhangs mit der von Vitruv
entwickelten Architekturtheorie sowie schließlich die Erklärung jener im Kanon
der menschlichen Proportionen formulierten anthropomorphen Archi-
tekturauffassung. Die somit beabsichtigte Erklärung von Vitruvs Archi-
tekturverständnis ist jedoch begrenzt; denn Vitruvs Architekturvorstellungen,
als das nicht immer kohärente Produkt aus den praktischen Anschauungen des
römischen Ingenieurwesens und den theoretischen Auffassungen der extensiv
benutzten griechischen Quellen, sind alles andere als eindeutig formuliert. Eine
weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß die zusätzlich zu
konsultierenden griechischen und lateinischen Quellen verschiedenen Epochen
und unterschiedlichsten Sachzusammenhängen angehören.
1 Vgl. H. K. SCHULTE, Orator. Untersuchungen über das Ciceroanische Bildungsideal, Frankfurt
1935, S.79-93.
2 Vgl. H. FLASCHE, Similitudo templi. Zur Geschichte einer Metapher, in: Deutsche
Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 23.1949, S.81-125.
3 Vgl. J. A. CANE, The Ancient Building Science, Ann Arbor (Mich.) 1940; E. LORENZEN,
Technological Studies in Ancient Metrology, Kopenhagen 1966; dens., »Along the Line where
the Columns are set.« Book 11, Kopenhagen 1970; H. KNELL, Vitruvs Architekturtheorie.
Versuch einer Interpretation, Darmstadt 1985, S.63-66; TH. THIEME, Metrology and Planning in
the Basilica of Johannes Stoudios, in: Le Dessin d'architecture dans les soci^s antiques. Actes
du colloque de Strasbourg 26-27 janvier 1984, Straßburg 1985, S.291-308. Eine allgemeine
Einführung bei E. FERNIE, Historical Metrology and Architectural History, in: Art History
1.1978, S.383-399.
Vitruvs Angaben zu den Proportionen des menschlichen Körpers (De
architectura, 3.1.1-7., vgl. Appendix 1) geben keine direkte Rechtfertigung für
ihre Auslegung im Sinne einer metaphysisch begründeten Proportionsästhetik.
An anderer Stelle, im Vorwort zum neunten Buch, vergleicht Vitruv zwar die
Funktion von Maschinen mit den mechanischen Abläufen des Weltalls, doch
ignoriert er in seiner Auseinandersetzung mit dem enzyklopädischen
Wissenschaftsbegriff den ursprünglich bei Poseidonios formulierten kos-
mologischen Ursprung dieser Anschauung (1.1.12.).1 Wenn man der Vitru-
vischen Proportionsfigur trotz dieser zwiespältigen Haltung eine kosmische
Dimension geben will, so kann dies nur durch Bezug auf die suggestive
Symbolkraft der beschriebenen geometrischen Figuren, die Symbolik der
ausgebreiteten Arme des homo ad quadratum oder die Analogie zwischen
Tempel, Mensch, und Himmel geschehen.2 Interpretationen dieser Art sind
jedoch sehr vage, gehen an dem überwiegend technischen Charakter der
Ausführungen Vitruvs vorbei und sagen nichts über das in ihnen formulierte
Architekturverständnis aus. Daher wird in den folgenden Ausführungen
versucht, die Proportionsfigur Vitruvs in den theoretischen und praktischen
Zusammenhang der von ihm entwickelten Baulehre zu stellen. Zu Beginn
dieses Versuchs steht dabei die Erörterung der antiken Metrologie, deren
Verbindung zu den von Vitruv beschriebenen Proportionen in den letzten
Jahren diskutiert worden ist.3 Es folgt die Erörterung der baupraktischen
Relevanz der Metrologie und ihres Zusammenhangs mit der von Vitruv
entwickelten Architekturtheorie sowie schließlich die Erklärung jener im Kanon
der menschlichen Proportionen formulierten anthropomorphen Archi-
tekturauffassung. Die somit beabsichtigte Erklärung von Vitruvs Archi-
tekturverständnis ist jedoch begrenzt; denn Vitruvs Architekturvorstellungen,
als das nicht immer kohärente Produkt aus den praktischen Anschauungen des
römischen Ingenieurwesens und den theoretischen Auffassungen der extensiv
benutzten griechischen Quellen, sind alles andere als eindeutig formuliert. Eine
weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß die zusätzlich zu
konsultierenden griechischen und lateinischen Quellen verschiedenen Epochen
und unterschiedlichsten Sachzusammenhängen angehören.
1 Vgl. H. K. SCHULTE, Orator. Untersuchungen über das Ciceroanische Bildungsideal, Frankfurt
1935, S.79-93.
2 Vgl. H. FLASCHE, Similitudo templi. Zur Geschichte einer Metapher, in: Deutsche
Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 23.1949, S.81-125.
3 Vgl. J. A. CANE, The Ancient Building Science, Ann Arbor (Mich.) 1940; E. LORENZEN,
Technological Studies in Ancient Metrology, Kopenhagen 1966; dens., »Along the Line where
the Columns are set.« Book 11, Kopenhagen 1970; H. KNELL, Vitruvs Architekturtheorie.
Versuch einer Interpretation, Darmstadt 1985, S.63-66; TH. THIEME, Metrology and Planning in
the Basilica of Johannes Stoudios, in: Le Dessin d'architecture dans les soci^s antiques. Actes
du colloque de Strasbourg 26-27 janvier 1984, Straßburg 1985, S.291-308. Eine allgemeine
Einführung bei E. FERNIE, Historical Metrology and Architectural History, in: Art History
1.1978, S.383-399.