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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0043
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VITRUVS PROPORTIONSFIGUR

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waren in der einfachsten Version glattgeschliffene und genormte Richtscheite
oder Lineale zur Überprüfung ebener Flächen und zum Ziehen gerader Linien.24
Sie konnten aber auch nach Standardmaßen genormte Meßinstrumente sein, in
welchem Falle sich die Bezeichnung ihres Gebrauchs aus dem ursprünglichen
Namen kovcdv ableitet.25 Daher unterscheiden Pollux26 und Galen27 ausdrücklich
zwischen kovcdv (lat. regula) im Sinne eines einfachen Richtscheits einerseits
und einem Tüf^vc; (lat. cubitus) genannten kalibrierten Maßstab von einer Elle
Länge andererseits. Kalibrierte Standardmeßinstrumente dieser Art sind
vermutlich auch in der Heiligen Schrift gemeint, wenn die Maße des Sa-
lomonischen Tempels beschrieben werden (Ez.40-43); außerdem gehörten sie
zur Ausrüstung der Landvermesser.28 Die dritte Möglichkeit eines Maßstabs ist
die von Philon ausführlich beschriebene, wenn nämlich ein Instrument von
beliebiger Länge nicht nach einem Standardmaß selbst unterteilt wird, sondern
nach dessen metrologischen Konventionen. Die auf römischen Grabreliefs
mitunter abgebildeten kalibrierten Maßstäbe entsprechen entweder diesem nur
durch die Beschreibung bei Philon näher bekannten Instrument oder aber jenem
bei Galen und Pollux erwähnten Standardmaß von einer Elle Länge.29 Solche
gemäß anthropomorpher Metrologie oder ihrer Prinzipien kalibrierten
Meßinstrumente waren bis in die Neuzeit eine allen Bauhandwerkern geläufige
Sache. So unterscheidet Cesare Cesariano in seinem Vitruvkommentar von
1521 zwischen einem zwei mal zwölffach abgeteilten Ellenmaßstab für Maurer-
und Zimmerarbeiten und einer Meßlatte von bis zu 6 Fuß Länge.30 Weitere
Beispiele finden sich kontinuierlich vom 15. bis zum 17. Jahrhundert.31 Die
Kalibrierung dieser Instrumente geschah, soweit sie nicht ohnehin den
genormten Standardmaßen entsprachen, gemäß den von Philon und später noch
von Cesariano benutzten Konventionen der Metrologie. Innerhalb dieser gab es
bestimmte Varianten, wenn etwa ein Maßstab zunächst in 4 und dann eins der
Teile nochmals in 4 Einheiten unterteilt wurde. Diese Kalibrierung
unterscheidet sich zwar von derjenigen Philons, gehorcht aber demselben
Prinzip. Denn während man heute eine dezimale Teilung in Zehntel vornähme,
orientierte man sich damals am Duodezimalsystem mit bevorzugten
Unterteilungen in Sechstel und Viertel, die dann zu Achteln, Zwölfteln,
Sechszehnteln usw. kombiniert werden konnten. Die suggestive Ähnlichkeit der

24 Vgl. H. BLUEMNER, Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste bei Griechen
und Römern, 4Bde., Leipzig 1875-1887, Bd.2, S.231-237; A. ORLANDOS, Les Mat6riaux de
construction et la technique architecturale des anciens Grecs, 2Bde., Paris 1966-1968, Bd.2,
S.59-69; COULTON, Greek Temple Design, S.90-92.

25 Vgl. DIO CHRYSOSTOMOS, Orationes 78.22., Ed. BUD^, Bd.2, S.267; APOLLONIUS
RHODIUS, Argonautica 1.720-724; H. OPPEL, Kanon. Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes
und seiner lateinischen Entsprechungen (regula-norma), in: Philologus, Suppl. Bd. 30, H.4, 1937,
S.11.

26 POLLUX, Onomasticon 10.147., Ed.Bekker, S.439.

27 GALEN, De optima doctrina 3, Ed.Kühn, Bd.l, S.47.

28 Vgl. HULTSCH, Metrologie, S.37-39; O. A. W. DILKE, The Roman Land Surveyors, Newton
Abbot 1971.

29 Vgl. BLUEMNER, Technologie, Bd.3, S.91, Fig.2; ORLANDOS, Les Mat6riaux, Bd.2, S.63,
Fig.58d; CH. SINGER, A History of Technology, 5Bde., Oxford 1954-1958, Bd.l, S.780.

30 CESARIANO, Vitruuio, fol.48v (zit. Kap.IX).

31 Vgl. z.B. ENDRES TUCHER, Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg (1464-1475), hrsg. v.
F.v.Weech und M. Lexer, Stuttgart 1862, S.67; CAPORALI, Architettura, fol.69r (zit. in Kap.
VIII.3); NICOLAUS GOLDMANN, Vollständige Anweisung zu der Civil Bau Kunst,
Wolfenbüttel, 1696, S.31 und Taf.8.
 
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