34
KAPITEL II
Kalibrierung von Philons Maßstab mit der von Vitruv beschriebenen Aufteilung
der Gesamtkörperhöhe des Menschen macht aus seinem metrologisch
definierten Proportionskanon also noch keine Meßlatte. Und auch Philons
Maßstab ist keine im Altertum benutzte Meßrute, denn ihre Unterteilung
geschieht nicht mit den anthropomorphen Maßen selbst, sondern lediglich in
Übereinstimmung mit dem auf metrologischen Konventionen basierenden
Kalibrierungssystem. Da das Geschoß, wie Philon schreibt, und damit die zur
Messung verwendete Grunddimension selbst jede beliebige Länge haben kann,
ist die Kalibrierung nach dem System und nicht nach den Standardmaßen die
einzig mögliche. Es kommt dabei auf das immer gleiche Prinzip der Unter-
teilung an, das sich auf geläufige und dem Duodezimalsystem verpflichtete
metrologische Konventionen bezieht. Während Philon mit seiner Meßlatte ihre
tatsächliche Anwendung erläutert, kann Vitruvs gemäß diesen Konventionen
definierter Proportionskanon als ein Hinweis auf ihre praktische Nützlichkeit
verstanden werden.
Ein weiterer Hinweis dieser Art ergibt sich aus Vitruvs Beschreibung des
homo ad quadratum, in der vom gleichen Maß (mensura) die Rede ist, das
sowohl vom Scheitel bis zur Sohle als auch zwischen den ausgebreiteten Armen
gemessen werde. Hieraus ergebe sich die gleiche Breite und Höhe, wie bei
Flächen, die nach dem Winkelmaß (norma) quadratisch seien (quae ad normam
sunt quadratae, 3.1.3.). Der mit diesen Worten beschriebene homo ad
quadratum verweist also auf das Winkelmaß (norma), das neben Zirkel und
Richtscheit zu den grundlegenden Werkzeugen von Bauhandwerkern und
Architekten gehört. Der praktische Zusammenhang dieser Instrumente
untereinander wird, wie Vitruv an anderer Stelle schreibt, durch die Geometrie
konstituiert:
[...] und zwar vermittelt sie [d.i. die Geometrie] zuerst aus den gradlinigen Figuren
(ex euthygrammis) den Gebrauch des Zirkels, wodurch sie ganz besonders das
Aufzeichnen von Gebäuden auf dem Zeichenbrett und das Ausrichten rechter
Winkel, waagerechter Flächen und gerader Linien erleichtert.32
Mithilfe dieser Äußerung kann der praktische Sinn des homo ad quadratum
rekonstruiert werden. Die erwähnte gradlinige Figur (euthygrammum)
entspricht jenen Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch und damit
rechtwinklig sind. Diese Figuren werden geometrisch mit Zirkel und Lineal
konstruiert und ermöglichen als Teil angewandter Geometrie den Entwurf der
Gebäude (descriptio aedificiorum, 1.1.4.) auf dem Zeichenbrett. Wenn man sich
weiter vergegenwärtigt, daß bei der Beschreibung des sogenannten homo ad
circulum möglicherweise auf eine in byzantinischen Quellen erwähnte
Meßleine verwiesen wird und außerdem gar nicht von einem Kreis als solchem
(circulus) die Rede ist, sondern vom Schlagen des Zirkels und dem daraus
resultierenden »runden Schema« (schema rotundationis), dann dürfte die
praktische Relevanz der beschriebenen Zusammenhänge klarer werden. Im
homo ad quadratum wird neben dem Winkelmaß (norma) die gradlinige Figur,
das euthygrammum, veranschaulicht, aus dem sich der Gebrauch des Zirkels
(usus circini, 1.1.4.) ergibt. Auf diesen Gebrauch des Zirkels wiederum bezieht
32 [...] et primum ex euthygrammis circini tradit usum, e quo maxime facilius aedificiorum in
areis expediuntur descriptiones normarumque et librationum et linearum directiones. VITRUV,
De architectura 1.1.4. Die von K. Fensterbusch vorgeschlagene Übersetzung für euthygrammum,
»Lineal«, wurde geändert, denn euthygrammum oder griechisch xö EV&OTpappov ist den Quellen
zufolge eine gradlinige Figur; vgl. Thesaurus linguae latinae, Bd.5.2., Leipzig 1953, Sp.1081
(vgl. zu diesem Problem auch Kap. IX.2).
KAPITEL II
Kalibrierung von Philons Maßstab mit der von Vitruv beschriebenen Aufteilung
der Gesamtkörperhöhe des Menschen macht aus seinem metrologisch
definierten Proportionskanon also noch keine Meßlatte. Und auch Philons
Maßstab ist keine im Altertum benutzte Meßrute, denn ihre Unterteilung
geschieht nicht mit den anthropomorphen Maßen selbst, sondern lediglich in
Übereinstimmung mit dem auf metrologischen Konventionen basierenden
Kalibrierungssystem. Da das Geschoß, wie Philon schreibt, und damit die zur
Messung verwendete Grunddimension selbst jede beliebige Länge haben kann,
ist die Kalibrierung nach dem System und nicht nach den Standardmaßen die
einzig mögliche. Es kommt dabei auf das immer gleiche Prinzip der Unter-
teilung an, das sich auf geläufige und dem Duodezimalsystem verpflichtete
metrologische Konventionen bezieht. Während Philon mit seiner Meßlatte ihre
tatsächliche Anwendung erläutert, kann Vitruvs gemäß diesen Konventionen
definierter Proportionskanon als ein Hinweis auf ihre praktische Nützlichkeit
verstanden werden.
Ein weiterer Hinweis dieser Art ergibt sich aus Vitruvs Beschreibung des
homo ad quadratum, in der vom gleichen Maß (mensura) die Rede ist, das
sowohl vom Scheitel bis zur Sohle als auch zwischen den ausgebreiteten Armen
gemessen werde. Hieraus ergebe sich die gleiche Breite und Höhe, wie bei
Flächen, die nach dem Winkelmaß (norma) quadratisch seien (quae ad normam
sunt quadratae, 3.1.3.). Der mit diesen Worten beschriebene homo ad
quadratum verweist also auf das Winkelmaß (norma), das neben Zirkel und
Richtscheit zu den grundlegenden Werkzeugen von Bauhandwerkern und
Architekten gehört. Der praktische Zusammenhang dieser Instrumente
untereinander wird, wie Vitruv an anderer Stelle schreibt, durch die Geometrie
konstituiert:
[...] und zwar vermittelt sie [d.i. die Geometrie] zuerst aus den gradlinigen Figuren
(ex euthygrammis) den Gebrauch des Zirkels, wodurch sie ganz besonders das
Aufzeichnen von Gebäuden auf dem Zeichenbrett und das Ausrichten rechter
Winkel, waagerechter Flächen und gerader Linien erleichtert.32
Mithilfe dieser Äußerung kann der praktische Sinn des homo ad quadratum
rekonstruiert werden. Die erwähnte gradlinige Figur (euthygrammum)
entspricht jenen Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch und damit
rechtwinklig sind. Diese Figuren werden geometrisch mit Zirkel und Lineal
konstruiert und ermöglichen als Teil angewandter Geometrie den Entwurf der
Gebäude (descriptio aedificiorum, 1.1.4.) auf dem Zeichenbrett. Wenn man sich
weiter vergegenwärtigt, daß bei der Beschreibung des sogenannten homo ad
circulum möglicherweise auf eine in byzantinischen Quellen erwähnte
Meßleine verwiesen wird und außerdem gar nicht von einem Kreis als solchem
(circulus) die Rede ist, sondern vom Schlagen des Zirkels und dem daraus
resultierenden »runden Schema« (schema rotundationis), dann dürfte die
praktische Relevanz der beschriebenen Zusammenhänge klarer werden. Im
homo ad quadratum wird neben dem Winkelmaß (norma) die gradlinige Figur,
das euthygrammum, veranschaulicht, aus dem sich der Gebrauch des Zirkels
(usus circini, 1.1.4.) ergibt. Auf diesen Gebrauch des Zirkels wiederum bezieht
32 [...] et primum ex euthygrammis circini tradit usum, e quo maxime facilius aedificiorum in
areis expediuntur descriptiones normarumque et librationum et linearum directiones. VITRUV,
De architectura 1.1.4. Die von K. Fensterbusch vorgeschlagene Übersetzung für euthygrammum,
»Lineal«, wurde geändert, denn euthygrammum oder griechisch xö EV&OTpappov ist den Quellen
zufolge eine gradlinige Figur; vgl. Thesaurus linguae latinae, Bd.5.2., Leipzig 1953, Sp.1081
(vgl. zu diesem Problem auch Kap. IX.2).