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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0058
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48

KAPITEL III

eindeutige Beweise16 für eine theoretische oder praktische Bedeutung von De
architectura in der karolingischen Baukunst ableiten. Denn zusammen-
genommen zeugen die literarischen Quellen von der Spätantike bis gegen die
Jahrtausendwende von einem nur dürftigen architektonischen Interesse an
Vitruv, und die Annahmen, daß Vitruvleser wie Einhardt oder Vussin die
Früchte ihrer Lektüre architektonisch umgesetzt haben, basieren auf vagen
stilistischen Zuweisungen oder der ikonologisch fragwürdigen Voraussetzung,
daß die Existenz eines architekturtheoretischen Textes gleichzeitig seine
Benutzung bedeute.
Angesichts antikisierender Elemente in karolingischer Kunst und Architektur
wäre die Frage zu stellen, ob ihr Auftauchen nicht mit größerer Plausibilität auf
den Einfluß erhaltener Monumente zurückgeführt werden könnte als auf die
Benutzung eines nicht illustrierten Textes. Vitruv bietet nämlich keine in der
Praxis leicht umzusetzenden Handlungsanweisungen für Architekten oder
Bauhandwerker (die den lateinischen Text ohnehin nicht hätten lesen können).
Für einen karolingischen Architekten gegebenenfalls interessante dekorative
Architekturteile wie Säulen oder Kapitelle hätte dieser für die ausführenden
Bauleute visualisieren müssen. Die Orientierung an existierenden Monumenten
ist in Anbetracht dieses Problems wahrscheinlicher als der mühsamere und
bisher nicht nachgewiesene Weg, antike Architekturelemente mithilfe von
Zeichnungen aus einem schwierigen Text zu rekonstruieren. Selbst die
Darstellungen von Säulen, Basen und Kapitellen im bekannten Schlettstädter
Manuskript sind keine praktisch relevanten Architekturzeichungen. Zudem
stimmt ihre Nomenklatur nicht mit den Angaben Vitruvs überein17, und
überhaupt fehlen Nachweise dafür, daß in jener Epoche die Notwendigkeit
bestanden hat, ein Architekturtraktat wie dasjenige Vitruvs zu benutzen. Die bis
heute vorliegenden Kenntnisse über die karolingische Bauorganisation und
Entwurfspraxis18 lassen eher den Schluß zu, daß ein theoretisch interessierter
und literarisch gebildeter Architekt im Sinne Vitruvs nicht existierte. Vielmehr
oblag die Bauaufsicht kompetenten Klerikern, die zwar gelegentlich architecti
genannt wurden, aber lediglich administrative Funktionen erfüllten.19 Diesem
verwaltungstechnisch tätigen architectus stand der magister operum gegenüber,
dem die Aufsicht der Bauausführung vor Ort oblag. Damit aber war die

16 Die oft zitierten Argumente von E. DE BRUYNE, Etudes d'esth6tique m6di6vale, 3Bde.,
Brügge 1946, bes. Bd.l, S.243-305, sind lediglich nicht verifizierbare Zuweisungen aufgrund des
Sprachgebrauchs mittelalterlicher Autoren. Dasselbe gilt für einige »Belege« in Bd.2, S.85-86
und 343-362, und Bd.l, S.243-261, besonders was die vermeintlichen Verbindungen zwischen
Vitruvs Anthropomorphismus und demjenigen der bei de Bruyne zitierten Autoren anbelangt
(hierzu s.u.).

17 Vgl. BISCHOFF, Mittelalterliche Studien, Bd.3, S.283-284.

18 Vgl. P. PAUSE, Gotische Architekturzeichnungen in Deutschland, Phil. Diss., Bonn 1973; K.
HECHT, Maß und Zahl in der gotischen Baukunst, Hildesheim 1979; einen Forschungsüberblick,
der eine zeitliche und regionale Differenzierung dieses Komplexes erlaubt, bieten A. SEELIGER-
ZEISS, Studien zum Steinmetzbuch des Lorenz Lechler von 1516, in: architectura 12.1982,
S.125-150, und G. BINDING, "Geometricis et aritmeticis instrumentis." Zur mittelalterlichen
Bauvermessung, in: Jahrbuch der Rheinischen Denkmalpflege 30/31.1985, S.9-24 (weitere
Angaben in Anm. 19).

19 Vgl. J. GWILT, The Encyclopedia of Architecture, 2.Aufl., London 1867 (Nachdruck New
York 1982), S.129-130; G. BINDING (Hrsg.), Beiträge über Bauführung und Baufinanzierung im
Mittelalter, Köln 1974; G. BINDING/ N. NUSSBAUM, Der mittelalterliche Baubetrieb nördlich
der Alpen in zeitgenössischen Darstellungen, Darmstadt 1978; die Angaben in Kap. IX, Anm.
48-65; P. TIGLER, Die Architekturtheorie des Filarete (Neue Münchner Beiträge zur
Kunstgeschichte 5), Berlin 1963, S.59.
 
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