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KAPITEL III
anderem von Geographen bei der Herstellung von Landkarten vorgenommen
werden (vgl. Kap. VII). Ristoros desegnatori sind möglicherweise mit den
cosmographi Luca Paciolis identisch, und wenn er sich hierbei gleichzeitig auf
Vitruv bezog, dann verstand er dessen Proportionskanon tatsächlich im Sinne
einer maßstäblichen oder proportionalen Übertragungstechnik.
Eine auffallende Ähnlichkeit mit Vitruvs Angaben zum homo ad circulum
und homo ad quadratum findet sich in einem Abschnitt des um 1300 (?)
entstandenen französischen Dialogs Placides et Timeo. Der anonyme Autor
eröffnet dort seine Ausführungen über den Mikrokosmos mit den folgenden
Worten:
Von der Seele des Menschen sage ich euch, daß sie die kostbarste, die
bedeutendste und würdigste Seele ist, die sei; denn der Mensch ist ein Lebewesen,
so würdig, eine Kreatur, so bedeutend, so vornehm und so vermögend, daß die
Philosophen sagen, der Mensch werde Mikrokosmus genannt, von griechisch
micros, das minor auf lateinisch heißt, und von griechisch cosmos, das auf
lateinisch mundus heißt; und folglich sagt man microcosmus, die minder Welt,
denn im Menschen können die vier Elemente ersichtlich werden. Und wisse
zuerst, daß ebenso wie die ganze Welt rund ist, so ist auch ein Mensch von gutem
Maß rund. Und genauso muß ein Mensch von gutem Klaftermaß (taille de toise)
mit seinen ausgestreckten Armen die gleiche Länge haben wie seine Höhe (son
estant), um einen rechten Kreis zu bilden.60
Hierauf folgt ein möglicherweise aus Honorius61 stammender Vergleich
einzelner Körperteile wie Kopf und Bauch mit Teilen der Welt wie Himmel und
Meer.
Auf den ersten Blick erscheint der hier zitierte Abschnitt zweifellos wie eine
mikrokosmisch inspirierte Paraphrase der Vitruvischen Proportionsfigur. Doch
auch in diesem Fall gibt es einige Indizien, die Zweifel an einer Rezeption des
homo ad quadratum und des homo ad circulum rechtfertigen. Denn es kann sich
hier möglicherweise um eine Kombination gängiger Vorstellungen und
verschiedenster Quellen handeln, ohne daß Vitruvs Angaben unbedingt in
Betracht gezogen werden müßten. So bezieht sich der anonyme Autor mit den
Worten de bonne taille de toise auf die altfranzösische Bezeichnung für das
Klaftermaß.62 Dessen Auslegung im Sinne des Mikrokosmos ist eindeutig bei
Solinus formuliert, und lediglich die genannte richtige Rundung (droit
rondesche) verweist durch die gleichzeitige Erwähnung des Klafters auf Vitruv.
Allerdings könnte die Kombination Kreisfigur und Klafter auch auf eine
Synthese verschiedener Quellen (wie etwa Solinus) mit eigenen Anschauungen
hinweisen. Diese Möglichkeit einer Kombination anderer Quellen mit
selbständig entwickelten Ideen sollte erwogen werden, da die bis heute
bekannten zweifelsfreien mittelalterlichen Interpretationen Vitruvs keine
60 De l'ame de l'omme vous di je que c'est le plus precieuse ame, le plus haute et le plus digne
qui soit, pour ce que homme est si digne beste, si haute creature, si noble et si poissans, pour ce
dirent les philosophes que homs estoit apelös microcosmus, de micros en grec, qui vaut a dire
minor en latin et de cosmos en grec, qui vaut a dire mundus en latin; et donques c'est a dire
microcosmus, le menre monde, pour ce que en homme peuent estre entendus les quatre elemens.
Et sachids premierement que tout aussi comme tous li mondes est reons, tout aussi homs de bonne
taille est rons. Et tout autant doit avoir homs de bonne taille de toise en estendue de ses bras
comme de long en sont estant pour faire droite rondesche. Placides et Tim6o ou li secrös as
philosophes. Edition critique avec introduction et notes par Claude Alexandre Thomasset, Paris
1980, S.93 (Nr.214).
61 HONORIUS AUGUSTODINENSIS, Elucidarium 1.11., PL172, Sp.1110-1176, Sp.1116.
62 Vgl. A. TOBLER/E. LOMMATSCH, Altfranzösisches Wörterbuch, Bd.10, Wiesbaden 1976,
Sp.357-359.
KAPITEL III
anderem von Geographen bei der Herstellung von Landkarten vorgenommen
werden (vgl. Kap. VII). Ristoros desegnatori sind möglicherweise mit den
cosmographi Luca Paciolis identisch, und wenn er sich hierbei gleichzeitig auf
Vitruv bezog, dann verstand er dessen Proportionskanon tatsächlich im Sinne
einer maßstäblichen oder proportionalen Übertragungstechnik.
Eine auffallende Ähnlichkeit mit Vitruvs Angaben zum homo ad circulum
und homo ad quadratum findet sich in einem Abschnitt des um 1300 (?)
entstandenen französischen Dialogs Placides et Timeo. Der anonyme Autor
eröffnet dort seine Ausführungen über den Mikrokosmos mit den folgenden
Worten:
Von der Seele des Menschen sage ich euch, daß sie die kostbarste, die
bedeutendste und würdigste Seele ist, die sei; denn der Mensch ist ein Lebewesen,
so würdig, eine Kreatur, so bedeutend, so vornehm und so vermögend, daß die
Philosophen sagen, der Mensch werde Mikrokosmus genannt, von griechisch
micros, das minor auf lateinisch heißt, und von griechisch cosmos, das auf
lateinisch mundus heißt; und folglich sagt man microcosmus, die minder Welt,
denn im Menschen können die vier Elemente ersichtlich werden. Und wisse
zuerst, daß ebenso wie die ganze Welt rund ist, so ist auch ein Mensch von gutem
Maß rund. Und genauso muß ein Mensch von gutem Klaftermaß (taille de toise)
mit seinen ausgestreckten Armen die gleiche Länge haben wie seine Höhe (son
estant), um einen rechten Kreis zu bilden.60
Hierauf folgt ein möglicherweise aus Honorius61 stammender Vergleich
einzelner Körperteile wie Kopf und Bauch mit Teilen der Welt wie Himmel und
Meer.
Auf den ersten Blick erscheint der hier zitierte Abschnitt zweifellos wie eine
mikrokosmisch inspirierte Paraphrase der Vitruvischen Proportionsfigur. Doch
auch in diesem Fall gibt es einige Indizien, die Zweifel an einer Rezeption des
homo ad quadratum und des homo ad circulum rechtfertigen. Denn es kann sich
hier möglicherweise um eine Kombination gängiger Vorstellungen und
verschiedenster Quellen handeln, ohne daß Vitruvs Angaben unbedingt in
Betracht gezogen werden müßten. So bezieht sich der anonyme Autor mit den
Worten de bonne taille de toise auf die altfranzösische Bezeichnung für das
Klaftermaß.62 Dessen Auslegung im Sinne des Mikrokosmos ist eindeutig bei
Solinus formuliert, und lediglich die genannte richtige Rundung (droit
rondesche) verweist durch die gleichzeitige Erwähnung des Klafters auf Vitruv.
Allerdings könnte die Kombination Kreisfigur und Klafter auch auf eine
Synthese verschiedener Quellen (wie etwa Solinus) mit eigenen Anschauungen
hinweisen. Diese Möglichkeit einer Kombination anderer Quellen mit
selbständig entwickelten Ideen sollte erwogen werden, da die bis heute
bekannten zweifelsfreien mittelalterlichen Interpretationen Vitruvs keine
60 De l'ame de l'omme vous di je que c'est le plus precieuse ame, le plus haute et le plus digne
qui soit, pour ce que homme est si digne beste, si haute creature, si noble et si poissans, pour ce
dirent les philosophes que homs estoit apelös microcosmus, de micros en grec, qui vaut a dire
minor en latin et de cosmos en grec, qui vaut a dire mundus en latin; et donques c'est a dire
microcosmus, le menre monde, pour ce que en homme peuent estre entendus les quatre elemens.
Et sachids premierement que tout aussi comme tous li mondes est reons, tout aussi homs de bonne
taille est rons. Et tout autant doit avoir homs de bonne taille de toise en estendue de ses bras
comme de long en sont estant pour faire droite rondesche. Placides et Tim6o ou li secrös as
philosophes. Edition critique avec introduction et notes par Claude Alexandre Thomasset, Paris
1980, S.93 (Nr.214).
61 HONORIUS AUGUSTODINENSIS, Elucidarium 1.11., PL172, Sp.1110-1176, Sp.1116.
62 Vgl. A. TOBLER/E. LOMMATSCH, Altfranzösisches Wörterbuch, Bd.10, Wiesbaden 1976,
Sp.357-359.