THEORETIKER UND PRAKTIKER IM QUATTROCENTO
67
hierbei die Verhältnisse der Teile - etwa des menschlichen Körpers - zueinander
und zu einem vorgestellten Ganzen. Die Erfüllung oder Anwendung beider
Begriffe garantiert zwar, wie Ghiberti betont, die Schönheit, doch fügt er diesen
Begriffen noch den der intentione hinzu, die als eine »Absicht« der gesamten
Operation zugrundeliegt. Diese intentione, die ebenfalls aus Alhazens Optik
stammt, ist allem Anschein nach ein Prinzip, das demjenigen der Proportion im
abstrakten Sinne voransteht; allerdings läßt der fragmentarische dritte Abschnitt
in Ghibertis commentarii keine weiteren Schlüsse über eine theoretische
Entwicklung dieses abstrakten Begriffs zu.
Die beiden genannten Voraussetzungen, nämlich das verlorene Vorbild der
antiken Kunstschriftsteller und das kunsttheoretische Prinzip der Proportion,
greift Ghiberti in seiner Erläuterung der menschlichen Maßverhältnisse nur
mittelbar wieder auf. Da die Sammlung von Exzerpten im dritten Abschnitt der
commentarii aufgrund ihres fragmentarischen Charakters noch keine
durchdachte Kunsttheorie darstellt, sind auch die Erörterungen zur Propor-
tionslehre, die bezeichnenderweise unvermittelt abbrechen, in einem wenig
entwickelten Stadium verblieben. Doch verdeutlicht jene fragmentarische
Zusammenstellung von Exzerpten und Gedanken, daß Ghiberti seine Propor-
tionslehre in die Tradition der ausgezeichneten antiken Bildner stellen wollte.
Aus diesem Grund greift er zu Beginn des eigentlichen Abschnittes über die
Proportion auf die Angaben Vitruvs zurück. Nachdem er den Leser erneut mit
den bei Plinius erwähnten Malern und Bildhauern der Antike bekannt gemacht
hat, stellt er deren künstlerische und kunsttheoretische Grundlage mit den
folgenden Worten vor:
Und beginnen wir, der männlichen Figur Gestalt zu geben mit jener Kunst und
Bestimmung sowie mit Proportionen und Symmetrien, die die vornehmsten
antiken Bildhauer und Maler benutzten; und errichten (porremo) wir die Figur des
Kreises, wie sie in alter Zeit durch (per) sie (loro [die antiken Bildner]) mit der
Geometrie (gismetria) und den Maßen gefunden worden ist [...].19
Mit diesem Passus bezieht sich Ghiberti sowohl auf die Tradition der bei Vitruv
und Plinius gelobten antiken Künstler als auch auf jenes Prinzip, das mit den
Begriffen proportio und symmetria bezeichnet wird. Ebenso prinzipiell versteht
er die gismetria und den Kreis, die beide der Konstruktion der menschlichen
Figur zugrundeliegen. Hierbei repräsentiert der Kreis ein für das Maß des
Menschen notwendiges Prinzip, denn Ghiberti verneint später eine direkte und
anschauliche Verbindung zwischen dem menschlichen Körper und jener
geometrischen Figur:
[...] diese Sache scheint mir schwierig, weil der Mensch in den Beinen sich nicht
so sehr öffnen kann, daß er den Kreis berührt. Weit öffnet sich der Mensch in den
Armen, nicht ebenso weit kann er sich in den Füßen öffnen. Nochmals, es scheint
mir nicht der Nabel der Mittelpunkt [des menschlichen Körpers] zu sein; es
scheint mir, er müsse dort sein, wo das Schamglied ist f...].20
19 Et cominceremo a dare forma alla statua uirile con quella arte et diffinitioni et proportioni et
simmetrie ehe usarono e nobilissimi statuarij et pictori antichi et porremo la figura del circulo
come per loro fu trouata antichamente colle gismetrie et misure [...]. GHIBERTI, Commentarii,
Bd.l, S.227; eine alternative Übersetzung bietet: N. SPEICH, Die Proportionslehre des
menschlichen Körpers. Antike, Mittelalter, Renaissance, Phil.Diss., Zürich 1957, S.138-139; ebd.,
S.136-150, auch eine Darstellung der Proportionslehre Ghibertis.
20 [...] la qual cosa mi pare difficile perd ehe l'uomo non si pud tanto aprire nelle gambe, esso
possa toccare el circulo. Molto s'apre l'uomo nelle braccia: non si pud tanto aprire ne' piedi.
Ancora non mi pare del centro sia el bellico, parmi debba essere doue b'l membro genitale [...].
GHIBERTI, Commentarii, Bd.l, S.231; Übersetzung nach SPEICH, Proportionslehre, S.143.
67
hierbei die Verhältnisse der Teile - etwa des menschlichen Körpers - zueinander
und zu einem vorgestellten Ganzen. Die Erfüllung oder Anwendung beider
Begriffe garantiert zwar, wie Ghiberti betont, die Schönheit, doch fügt er diesen
Begriffen noch den der intentione hinzu, die als eine »Absicht« der gesamten
Operation zugrundeliegt. Diese intentione, die ebenfalls aus Alhazens Optik
stammt, ist allem Anschein nach ein Prinzip, das demjenigen der Proportion im
abstrakten Sinne voransteht; allerdings läßt der fragmentarische dritte Abschnitt
in Ghibertis commentarii keine weiteren Schlüsse über eine theoretische
Entwicklung dieses abstrakten Begriffs zu.
Die beiden genannten Voraussetzungen, nämlich das verlorene Vorbild der
antiken Kunstschriftsteller und das kunsttheoretische Prinzip der Proportion,
greift Ghiberti in seiner Erläuterung der menschlichen Maßverhältnisse nur
mittelbar wieder auf. Da die Sammlung von Exzerpten im dritten Abschnitt der
commentarii aufgrund ihres fragmentarischen Charakters noch keine
durchdachte Kunsttheorie darstellt, sind auch die Erörterungen zur Propor-
tionslehre, die bezeichnenderweise unvermittelt abbrechen, in einem wenig
entwickelten Stadium verblieben. Doch verdeutlicht jene fragmentarische
Zusammenstellung von Exzerpten und Gedanken, daß Ghiberti seine Propor-
tionslehre in die Tradition der ausgezeichneten antiken Bildner stellen wollte.
Aus diesem Grund greift er zu Beginn des eigentlichen Abschnittes über die
Proportion auf die Angaben Vitruvs zurück. Nachdem er den Leser erneut mit
den bei Plinius erwähnten Malern und Bildhauern der Antike bekannt gemacht
hat, stellt er deren künstlerische und kunsttheoretische Grundlage mit den
folgenden Worten vor:
Und beginnen wir, der männlichen Figur Gestalt zu geben mit jener Kunst und
Bestimmung sowie mit Proportionen und Symmetrien, die die vornehmsten
antiken Bildhauer und Maler benutzten; und errichten (porremo) wir die Figur des
Kreises, wie sie in alter Zeit durch (per) sie (loro [die antiken Bildner]) mit der
Geometrie (gismetria) und den Maßen gefunden worden ist [...].19
Mit diesem Passus bezieht sich Ghiberti sowohl auf die Tradition der bei Vitruv
und Plinius gelobten antiken Künstler als auch auf jenes Prinzip, das mit den
Begriffen proportio und symmetria bezeichnet wird. Ebenso prinzipiell versteht
er die gismetria und den Kreis, die beide der Konstruktion der menschlichen
Figur zugrundeliegen. Hierbei repräsentiert der Kreis ein für das Maß des
Menschen notwendiges Prinzip, denn Ghiberti verneint später eine direkte und
anschauliche Verbindung zwischen dem menschlichen Körper und jener
geometrischen Figur:
[...] diese Sache scheint mir schwierig, weil der Mensch in den Beinen sich nicht
so sehr öffnen kann, daß er den Kreis berührt. Weit öffnet sich der Mensch in den
Armen, nicht ebenso weit kann er sich in den Füßen öffnen. Nochmals, es scheint
mir nicht der Nabel der Mittelpunkt [des menschlichen Körpers] zu sein; es
scheint mir, er müsse dort sein, wo das Schamglied ist f...].20
19 Et cominceremo a dare forma alla statua uirile con quella arte et diffinitioni et proportioni et
simmetrie ehe usarono e nobilissimi statuarij et pictori antichi et porremo la figura del circulo
come per loro fu trouata antichamente colle gismetrie et misure [...]. GHIBERTI, Commentarii,
Bd.l, S.227; eine alternative Übersetzung bietet: N. SPEICH, Die Proportionslehre des
menschlichen Körpers. Antike, Mittelalter, Renaissance, Phil.Diss., Zürich 1957, S.138-139; ebd.,
S.136-150, auch eine Darstellung der Proportionslehre Ghibertis.
20 [...] la qual cosa mi pare difficile perd ehe l'uomo non si pud tanto aprire nelle gambe, esso
possa toccare el circulo. Molto s'apre l'uomo nelle braccia: non si pud tanto aprire ne' piedi.
Ancora non mi pare del centro sia el bellico, parmi debba essere doue b'l membro genitale [...].
GHIBERTI, Commentarii, Bd.l, S.231; Übersetzung nach SPEICH, Proportionslehre, S.143.