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KAPITEL IV
Im Gegensatz zu Luca Pacioli hatte Ghiberti die den homo ad circulum
betreffenden Angaben offenbar einer Überprüfung unterzogen. Dies gilt
möglicherweise nicht für seine Haltung gegenüber den widersprüchlichen
Angaben Vitruvs, die den Abstand vom Scheitel und vom Haaransatz bis zur
Brust betreffen (vgl. Kap. II), denn er läßt in seinem Exzerpt des Vitruvischen
Proportionskanons den entsprechenden Abschnitt aus.21
Wie andere Künstler des Quattrocento stieß auch Ghiberti auf den
Widerspruch, der zwischen dem traditionellen Proportionskanon der
Künstlerwerkstätten einerseits und den Angaben Vitruvs andererseits besteht.
Dieser Widerspruch wird nicht aufgelöst, da es sich beim dritten Abschnitt der
commentarii um eine unredigierte Sammlung von Notizen, Exzerpten und
Gedanken handelt. Doch deren fragmentarischer Charakter kann nicht darüber
hinwegtäuschen, daß auch die unvollendete Proportionslehre in der antiken
Tradition steht. In diesem Sinne ist Ghibertis Behauptung zu verstehen, die
antiken Bildner hätten jenen aus den mittelalterlichen Künstlerwerkstätten
bekannten Proportionskanon benutzt.22 Gerade das jedoch dürfte kaum den
Tatsachen entsprechen, und Ghibertis antike Etikettierung eines nicht antiken
Elements in der zeitgenössischen Kunstpraxis belegt erneut die Stellung, die das
klassische Altertum in seinem Denken einnahm. Wie im Falle Albrecht Dürers
stand dabei zunächst Vitruvs Proportionsfigur - neben der Kunstkritik des
Plinius - im Brennpunkt, doch im Gegensatz zu Dürer hatte Ghiberti nicht die
Möglichkeit, seine eigenen Vorstellungen zur Proportionstheorie zu einem von
Vitruv und von der Antike unabhängigeren Stadium zu entwickeln. Die
Voraussetzungen hierfür waren um die Mitte des 15. Jahrhunderts noch nicht
gegeben, und außerdem mag Ghibertis Tod eine umfangreichere und
durchdachte Proportionslehre verhindert haben.
3. Antonio Averlino Filarete
Antonio di Pietro Averlino, genannt Filarete, wurde um das Jahr 1400 in
Florenz geboren und erhielt dort seine Ausbildung als Goldschmied und
Bronzegießer. Als sein plastisches Hauptwerk gilt die 1445 vollendete
Bronzetür für das Hauptportal von St.Peter in Rom. Nach Tätigkeiten in eben
dieser Stadt, in Oberitalien und in Venedig wurde er 1451 Ingenieur und
Architekt am Hof Francesco Sforzas in Mailand. Außerdem war er beteiligt an
der Planung und Ausführung des Domes zu Bergamo und des Mailänder
Ospedale Maggiore. Über Filaretes Ableben gibt es keine Nachricht, doch kann
man annehmen, daß er nicht viel später als 1469 gestorben ist.23
Filaretes sogenannter Trattato di architettura, der als erstes volkssprachliches
Architekturtraktat gilt, ist 1458 begonnen und hauptsächlich zwischen 1461 und
1464 verfaßt worden.24 Er war ursprünglich Francesco Sforza, doch dann, nach
dessen Tod, Piero de' Medici gewidmet und zielte auf ein an Architektur in-
21 GHIBERTI, Commentarii, Bd.l, S.228.
22 Ebd., S.228-229.
23 Vgl. P. TIGLER, Die Architekturtheorie des Filarete (Münchner Beiträge zur Kunstgeschichte
5), S.1-6; G. GERMANN, Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, Darmstadt 1980,
S.64-77.
24 ANTONIO AVERLINO DETTO IL FILARETE, Trattato di architettura. Testa a cura di A. M.
Finoli e L. Grassi, 2Bde., Mailand 1972.
KAPITEL IV
Im Gegensatz zu Luca Pacioli hatte Ghiberti die den homo ad circulum
betreffenden Angaben offenbar einer Überprüfung unterzogen. Dies gilt
möglicherweise nicht für seine Haltung gegenüber den widersprüchlichen
Angaben Vitruvs, die den Abstand vom Scheitel und vom Haaransatz bis zur
Brust betreffen (vgl. Kap. II), denn er läßt in seinem Exzerpt des Vitruvischen
Proportionskanons den entsprechenden Abschnitt aus.21
Wie andere Künstler des Quattrocento stieß auch Ghiberti auf den
Widerspruch, der zwischen dem traditionellen Proportionskanon der
Künstlerwerkstätten einerseits und den Angaben Vitruvs andererseits besteht.
Dieser Widerspruch wird nicht aufgelöst, da es sich beim dritten Abschnitt der
commentarii um eine unredigierte Sammlung von Notizen, Exzerpten und
Gedanken handelt. Doch deren fragmentarischer Charakter kann nicht darüber
hinwegtäuschen, daß auch die unvollendete Proportionslehre in der antiken
Tradition steht. In diesem Sinne ist Ghibertis Behauptung zu verstehen, die
antiken Bildner hätten jenen aus den mittelalterlichen Künstlerwerkstätten
bekannten Proportionskanon benutzt.22 Gerade das jedoch dürfte kaum den
Tatsachen entsprechen, und Ghibertis antike Etikettierung eines nicht antiken
Elements in der zeitgenössischen Kunstpraxis belegt erneut die Stellung, die das
klassische Altertum in seinem Denken einnahm. Wie im Falle Albrecht Dürers
stand dabei zunächst Vitruvs Proportionsfigur - neben der Kunstkritik des
Plinius - im Brennpunkt, doch im Gegensatz zu Dürer hatte Ghiberti nicht die
Möglichkeit, seine eigenen Vorstellungen zur Proportionstheorie zu einem von
Vitruv und von der Antike unabhängigeren Stadium zu entwickeln. Die
Voraussetzungen hierfür waren um die Mitte des 15. Jahrhunderts noch nicht
gegeben, und außerdem mag Ghibertis Tod eine umfangreichere und
durchdachte Proportionslehre verhindert haben.
3. Antonio Averlino Filarete
Antonio di Pietro Averlino, genannt Filarete, wurde um das Jahr 1400 in
Florenz geboren und erhielt dort seine Ausbildung als Goldschmied und
Bronzegießer. Als sein plastisches Hauptwerk gilt die 1445 vollendete
Bronzetür für das Hauptportal von St.Peter in Rom. Nach Tätigkeiten in eben
dieser Stadt, in Oberitalien und in Venedig wurde er 1451 Ingenieur und
Architekt am Hof Francesco Sforzas in Mailand. Außerdem war er beteiligt an
der Planung und Ausführung des Domes zu Bergamo und des Mailänder
Ospedale Maggiore. Über Filaretes Ableben gibt es keine Nachricht, doch kann
man annehmen, daß er nicht viel später als 1469 gestorben ist.23
Filaretes sogenannter Trattato di architettura, der als erstes volkssprachliches
Architekturtraktat gilt, ist 1458 begonnen und hauptsächlich zwischen 1461 und
1464 verfaßt worden.24 Er war ursprünglich Francesco Sforza, doch dann, nach
dessen Tod, Piero de' Medici gewidmet und zielte auf ein an Architektur in-
21 GHIBERTI, Commentarii, Bd.l, S.228.
22 Ebd., S.228-229.
23 Vgl. P. TIGLER, Die Architekturtheorie des Filarete (Münchner Beiträge zur Kunstgeschichte
5), S.1-6; G. GERMANN, Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, Darmstadt 1980,
S.64-77.
24 ANTONIO AVERLINO DETTO IL FILARETE, Trattato di architettura. Testa a cura di A. M.
Finoli e L. Grassi, 2Bde., Mailand 1972.