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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0092
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KAPITEL V

Übereinstimmung mit dem auf der Metrologie basierenden Proportionssystem
Vitruvs selbst. Er nimmt die Ratio von 1/4 für die Entfernung von der Linie der
Brustwarzen bis zum Scheitel und erhält durch seine Meßstriche an der Scham
und unterhalb des Kniegelenks eine systemkonforme Vierteilung der
Längenausdehnung des stehenden Mannes. Leonardo schien es allerdings nicht
als seine Aufgabe angesehen zu haben, den durch eine korrupte Texttradition
widersprüchlichen Vitruv im archäologischen Sinne zu berichtigen. So hatte er
ja schon das ästhetisch unbefriedigende Fußmaß in 1/7 geändert, und eben diese
Ratio verwendet er auch für die Entfernung von der Brusthöhe bis zum Scheitel.
Er verläßt dabei die arithmetische Regelmäßigkeit der Brüche mit geradem
Nenner und macht darüberhinaus noch weitere Versuche, diese eigentlich aus
dem (metrologischen) System fallende Proportion an anderen Stellen
unterzubringen. So bezeichnet sie exakt den Durchmesser der Weichen an der
engsten Stelle, und auch die Distanz von den Brustwarzen bis zum Nabel sowie
diejenige des rechten Unterarmes entspricht etwa einem Siebentel der
Körperhöhe. Hierdurch erklärt sich vielleicht auch der merkwürdige Umstand,
daß die Meßstriche an den Ellenbogengelenken als einzige ihrer Art nicht exakt
senkrecht sind. Durch ihre Schräge ergeben sich mehr Meßpunkte, nämlich
jeweils am oberen und am unteren Ende der Markierung. Diese Möglichkeit
hatte Leonardo vermutlich beabsichtigt, da er im Text die Länge des Oberarmes
mit 1/8 angibt, dieser Wert aber nicht exakt zu realisieren ist, wenn gleichzeitig
die Unterarme 1/7 und die Hände 1/10 der Körperhöhe sein sollen. Diese
Vorgehensweise, die übrigens einer rechnerischen Überprüfung nicht standhält,
könnte vielleicht bedeuten, daß Leonardo, um die Homogenität seines Propor-
tionssystems beizubehalten, die nicht in das metrologische System passende
Ratio von einem Siebentel mehr als einmal verwendete. Denn ein Propor-
tionskanon wird durch die Wiederholung bestimmter Rationes intelligibler,
wohingegen einzeln auftauchende Werte störend wirken.
Den bisherigen Beobachtungen ist zu entnehmen, daß Leonardo mit seiner
Studie zur Vitruvischen Proportionsfigur nicht nur deren metrologische
Grundlage erkannte, sondern auf ihrer Basis auch versuchte, ein davon
unabhängiges Proportionssystem zu entwickeln. Dieser unabhängigen
Vorgehensweise wird letztlich auch Leonardos Fähigkeit zuzuschreiben sein,
als erster überhaupt eine Konjektur im Text vorgenommen zu haben, die erst
Jahrhunderte später philologisch sanktioniert werden sollte. Es ist daher zu
klären, aufgrund welcher Voraussetzungen Leonardo zu seinen Ergebnissen hat
kommen können.

3. Leonardos Proportionsstudien
Leonardo kam um 1483 an den Mailänder Hof; neben seiner
Hauptbeschäftigung, den Arbeiten für das Sforzamonument, war er in
geringerem Umfange als Maler, als Ausstatter von Hoffesten und als Architekt
tätig. Seit 1487 sind erste Anatomiestudien nachweisbar17, doch die
Beschäftigung mit den Proportionen des menschlichen Körpers erstreckte sich
17 Vgl. McMURRICH, Leonardo the Anatomist, und K. D. KEELE/C. PEDRETTI, Leonardo da
Vinci. Corpus of the Anatomical Studies, 3Bde., London 1979-1980. Im folgenden werden die
alten Windsorpaginierungen (W.) angegeben und die neuen der Edition von Keele und Pedretti in
eckigen Klammern ([ ]) hinzugefügt.
 
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