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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0093
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LEONARDO DA VINCI

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bis auf eine länger zurückreichende Periode, denn aus den Jahren 1483 bis 1495
ist bereits eine große Anzahl von Proportionszeichnungen überliefert; dazu
kommen schriftliche Notizen, die vor allem die Proportionsstudien erläutern.
Diese Notizen, die in einigen Fällen selbständig und unillustriert sind, lassen
auf ein um 1490 geplantes Projekt schließen, das alle Aspekte des menschlichen
Körpers umfassen sollte. So schreibt er: a di 2. d'aprile 1489 libro titolato di
figura vmana^ An anderer Stelle, um 1489, führt er die Struktur dieses Buches
näher aus. Sein erster Teil befasse sich mit dem Wachsen des Kindes im
Mutterleib, der zweite mit der Figur des erwachsenen Mannes und der
erwachsenen Frau und der vierte schließlich mit den Venen, Muskeln, Knochen
etc. Darauf folge eine Darstellung der vier generellen Zustände des Menschen
(Freude, Weinen, Streit, Arbeit) sowie seiner Bewegungen, Haltungen und fünf
Sinne.19
Obwohl Luca Pacioli 1498 in der Dedikation seiner Abhandlung De divina
proportione von einem vollendeten Malereitraktat und einem fertiggestellten
Buch über die Bewegungen des menschlichen Körpers spricht, ist kaum
anzunehmen, daß Leonardo sein umfangreiches Projekt jemals fertiggestellt
hat.20 Denn abgesehen von den spärlichen Resten des Buches über Bewegung
im Codex Huygens21 wissen wir wenig über diese Abhandlung, und das uns
heute vorliegende Malereitraktat ist eine Kompilation Melzis, die teilweise
Material aus dem Zeitraum zwischen 1510 und 1515 enthält. Eine Ahnung
davon, wie sich das geplante Projekt weiterentwickelte, gibt eine kurze
Bemerkung aus dem Malereitraktat, die zwischen 1490 und 1495 zu datieren
ist.22 Dort endet eine Erörterung über das Aufwachsen und über die Propor-
tionen von Kindern mit dem Hinweis: »Und über den Rest wird man sich in den
allgemeinen Maßen des Menschen äußern.«23 Ein um 1493 zu datierendes Blatt
in Windsor enthält die Bemerkung: »Wenn du das Wachsen des Menschen
beendet hast, dann wirst du die Statur mit allen ihren Oberflächenmaßen
machen.«24
Da beide Bemerkungen dem oben skizzierten Projekt entsprechen, kann man
folgern, daß Leonardo tatsächlich an ihm arbeitete und daß er diese Arbeit um
1493 keineswegs beendet hatte. Weiterhin enthält der dritte Teil des von Melzi
zusammengestellten Trattato di pittura eine ganze Reihe von Bemerkungen,

18 Vgl. RICHTER, Literary Works, Par. 1370, Bd.2, S.343; die Bemerkung »libro di figura
vmana« wurde etwa 20 Jahre später von Leonardo hinzugefügt; vgl. PEDRETTI, Commentary,
Bd.2, S.314-315.

19 Vgl. RICHTER, Literary Works, Par. 797, Bd.2, S.86 (d.i. W.19037v [81v]), Zeile 1 bis 20 (die
dann folgenden Zeilen wurden später hinzugefügt).

20 PACIOLI, Divina proportione, in: Scritti rinascimentali, S.23-144, S.57; der vollständige Text
mit deutscher Übersetzung findet sich bei PACIOLI, Lehre vom goldenen Schnitt, Ed.
Winterberg (zit. Kap. VII).

21 Vgl. E. PANOFSKY, The Codex Huygens and Leonardo da Vinci's Art Theory (Studies of the
Warburg Institute 13), London 1940; PEDRETTI, Commentary, Bd.l, S.48-75; S. MARINELLI,
The Author of the Codex Huygens, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 44.1981,
S.214-220.

22 Vgl. C. PEDRETTI, Leonardo da Vinci on Painting. A Lost Book (Libro A), Berkeley (Los
Angeles) 1964.

23 e il resto si dira nella uniuersale misura del huomo. Codex Urbinas fol.103: Leonardo DA
VINCI, Das Buch von der Malerei. Nach dem Codex Vaticanus [Urbinas] 1270 herausgegeben,
übersetzt und erläutert von Heinrich Ludwig, 3Bde., Wien 1888, Nr. 264, Bd.l, S.290.

24 Qua[n]do tu äi finito di crescere l'omo tu farai la statua co[n] tutte sue misure superfitiali. Zit.
nach RICHTER, Literary Works, Par. 802, Bd.2, S.89 (d.i. W.19097r [35v]).
 
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