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LEONARDO DA VINCI

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Zu beantworten bleibt die Frage, wie und warum Leonardo zu seiner Studie
der Vitruvischen Proportionsfigur gekommen ist und welche Absicht er mit
ihrer ungemein präzisen Ausführung verband. Hier könnte die letzte der
Vorzeichnungen (die ebensogut auch die erste sein könnte) weiterhelfen
(W.19132r [27r]), die einen (allerdings nicht sonderlich korrekten) homo ad
quadratum darstellt und damit der Zeichnung in Venedig am nächsten steht.
Andererseits widmet sie sich, wie man dem begleitenden Text entnehmen kann,
einem gänzlich anderen Problem, nämlich dem der sich bei bestimmten
Bewegungen verändernden Proportionen (genauer, denen der sitzenden und
knieenden Figur). Außerdem ist dieser homo ad quadratum einer etwas
ungenauen Einteilung in Achtelteile unterworfen, einem System also, das noch
weit von der endgültigen Lösung in Venedig entfernt ist. Daraus lassen sich
grundsätzlich zwei Schlüsse ziehen:
1 .) Da es bis dahin in den Künstlerwerkstätten üblich war, den Kopf als Modul
eines Proportionssystems zu nehmen, versuchte Leonardo zunächst, Vitruvs
Kanon aufgrund dieser ihm nächstliegenden Maßeinheit zu verifizieren. Er
erkannte aber, daß dieses Vorgehen zu keinen brauchbaren Ergebnissen führte,
sondern zu Meßpunkten am Körper, die seinen anthropometrischen
Erfahrungen widersprachen. Daher wandte er sich in einem dann folgenden
Stadium, das durch die anderen Vorzeichnungen veranschaulicht wird, der oben
skizzierten Vorgehensweise zu.
2 .) Obschon Leonardo den Vitruvischen Proportionen ein großes Interesse
entgegenbrachte, beanspruchte die Auseinandersetzung mit ihnen keineswegs
seine gesamte Aufmerksamkeit. Im Gegenteil, er widmete sich noch anderen
Problemen, die sich aus dem von ihm projektierten Buch über den
menschlichen Körper ergaben - z. B. den Proportionen einer sich bewegenden
Figur.
Der merkwürdige Widerspruch, daß die der Vitruvstudie optisch am nächsten
stehende Vorzeichnung anders proportioniert ist und dazu noch offenbar einem
anderen Zweck, nämlich der Demonstration einer Kniefigur dient, wird sich
wohl nicht gänzlich auflösen lassen. Man kann daraus aber mit einiger Vorsicht
schließen, daß Leonardo sich in seinen Proportionsstudien zwischen den
verfügbaren Vorgaben, nämlich Vitruv, Anthropometrie und Metrologie,
bewegte und so das eine zum Korrektiv des anderen werden ließ. Sein
umfassendes Projekt, ein Buch über alle Aspekte des menschlichen Körpers zu-
sammenzustellen, begann Leonardo offenbar zu einem Zeitpunkt, als seine
Auseinandersetzung mit Vitruv einerseits und seine anthropometrischen
Experimente andererseits das hierfür nötige empirische wie theoretische
Material lieferten. Dabei floß die Metrologie als eine Grundlage der
Vermessung selbstverständlich mit ein, und es ist nicht zu entscheiden, welcher
Teil hier Priorität gehabt haben könnte. Die Anthropometrie ergab sich nicht
aus der Kenntnis Vitruvs, und die anthropometrischen Experimente sollten
keineswegs durch die Proportionen des antiken Autors sanktioniert werden. So
taucht die Studie zur Vitruvischen Proportionsfigur natürlicherweise in Leonar-
dos Studium des menschlichen Körpers auf, entwickelt aus den Detail arbeiten
zu einem größeren Projekt. Im Rahmen dieses Projekts kam er dann zu einer
Auffassung der Vitruvischen Proportionsfigur, die alle vorherigen und alle
nachfolgenden Lösungen an Verständnis, Originalität und empirischer
Zuverlässigkeit übertraf.
 
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