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KAPITEL VI
2. Dürers konstruierte Figuren
Dürers konstruierte Figuren entstanden vor allem zwischen 1500 und 1504
sowie um 1512/1513.32 Sie basieren auf vier verschiedenen Voraussetzungen,
nämlich auf Dürers Verständnis von »mas« und »grunt« der Geometrie, auf
antiken Figurentypen (Venus, Apollo und Herkules), auf Vitruvs Propor-
tionskanon und auf eigenen Beobachtungen.
Vitruvs »De architectura« dürfte Dürer gegen 1500 kennengelernt haben,
denn die allem Anschein nach früheste der erhaltenen Proportionsstudien - ein
weiblicher Akt in Frontalansicht von 1499/150033, der erst wenige Spuren
geometrischer Konstruktion aufweist - ist zwar mit den Angaben Vitruvs
beschriftet, nicht aber nach ihnen proportioniert. Vielmehr käme hier aufgrund
des in einen Kreis eingeschriebenen Kopfes ein aus spätgotischen Werkstätten
stammendes Schema infrage.34 Da andererseits die Beschriftung dieser Figur auf
Vitruv zurückgeht, muß das Blatt aus einer Phase stammen, in der Dürer mit
dem Kanon des antiken Autors zu experimentieren begann. Eine andere Zeich-
nung, etwa aus demselben Zeitraum (1499/1500), nimmt sowohl in den Propor-
tionen der Figur als auch für ihre Beschriftung auf den antiken Kanon Bezug.35
Außerdem weist sie erste Versuche einer geometrischen Schematisierung auf,
die Dürer in anderen Studien desselben Zeitraums weiterentwickelt und
teilweise mit Vitruvs Angaben kombiniert. Zu diesen Studien gehören ein
weiteres Blatt in London36 sowie zwei Zeichnungen des Dresdener
Skizzenbuchs.37 Außerdem belegen mehrere flüchtige Skizzen aus den Jahren
1500 bis 1501, daß Dürer sich mit dem bei Vitruv überlieferten Propor-
tionskanon auseinandersetzte.38
Von diesem Zeitpunkt bis zu den Typen B und C der 1528 veröffentlichten
Proportionslehre werden die von Vitruv erläuterten Maßangaben immer wieder
benutzt, doch haben sie nie eine entscheidende Bedeutung. Schon in der frühen
Phase ist zwischen etwa 1503 und 1505, wenn die bisher vorgeschlagenen
Datierungen korrekt sind, ein rückgängiges Interesse an Vitruv erkennbar. Erst
zwischen 1506 und 1508 tauchen wieder flüchtige Skizzen und ganze Figuren
nach Vitruv auf.39 Dürer setzte sich also nach seiner zweiten Italienreise wieder
intensiver mit Vitruv auseinander und stellte seine vor dieser Reise
entstandenen konstruierten Figuren dessen Angaben zur Seite. Die Proportionen
aus De architectura konnten, wie die frühen Beispiele zeigen (D.70 und D.91),
32 Vgl. die Literatur oben, Anm.2 und E. FLECHSIG, Albrecht Dürer. Sein Leben und seine
künstlerische Entwicklung, 2Bde., Berlin 1928-1929, S.144-201.
33 London 5228, fol.l61r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.40 (ich beziehe mich auf
London, British Library, Additonal Manuscript, früher bekannt als Sloane Manuscripts).
34 Vgl. E. PANOFSKY, Die Entwicklung der Proportionslehre, S.203 (zit. in Kap. 1.4).
35 London 5228, fol.l50r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.40.
36 London 5231, fol.l4r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.41 (Kopflänge).
37 D.70, fol.l62r (STRAUSS, Dresden Sketchbook, Nr.5, Vitruvs 1/8 und 1/10); D.91, fo!.155r
(STRAUSS, Dresden Sketchbook, Nr.7; Verwendung von Vitruvs 1/6 und 1/10).
38 London 5231, fol.l49r, und fol.14lr (RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.45).
39 London 5231, fol.l42r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.41.; 5228, fols.l64r und
164v (links oben), RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.163.; D.46, fo!.119v (STRAUSS,
Dresden Sketchbook, Nr.10); London 5231, fols.lv und 2r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß,
Bd.2, S.166., und fol.4r, ebd., S.169.
KAPITEL VI
2. Dürers konstruierte Figuren
Dürers konstruierte Figuren entstanden vor allem zwischen 1500 und 1504
sowie um 1512/1513.32 Sie basieren auf vier verschiedenen Voraussetzungen,
nämlich auf Dürers Verständnis von »mas« und »grunt« der Geometrie, auf
antiken Figurentypen (Venus, Apollo und Herkules), auf Vitruvs Propor-
tionskanon und auf eigenen Beobachtungen.
Vitruvs »De architectura« dürfte Dürer gegen 1500 kennengelernt haben,
denn die allem Anschein nach früheste der erhaltenen Proportionsstudien - ein
weiblicher Akt in Frontalansicht von 1499/150033, der erst wenige Spuren
geometrischer Konstruktion aufweist - ist zwar mit den Angaben Vitruvs
beschriftet, nicht aber nach ihnen proportioniert. Vielmehr käme hier aufgrund
des in einen Kreis eingeschriebenen Kopfes ein aus spätgotischen Werkstätten
stammendes Schema infrage.34 Da andererseits die Beschriftung dieser Figur auf
Vitruv zurückgeht, muß das Blatt aus einer Phase stammen, in der Dürer mit
dem Kanon des antiken Autors zu experimentieren begann. Eine andere Zeich-
nung, etwa aus demselben Zeitraum (1499/1500), nimmt sowohl in den Propor-
tionen der Figur als auch für ihre Beschriftung auf den antiken Kanon Bezug.35
Außerdem weist sie erste Versuche einer geometrischen Schematisierung auf,
die Dürer in anderen Studien desselben Zeitraums weiterentwickelt und
teilweise mit Vitruvs Angaben kombiniert. Zu diesen Studien gehören ein
weiteres Blatt in London36 sowie zwei Zeichnungen des Dresdener
Skizzenbuchs.37 Außerdem belegen mehrere flüchtige Skizzen aus den Jahren
1500 bis 1501, daß Dürer sich mit dem bei Vitruv überlieferten Propor-
tionskanon auseinandersetzte.38
Von diesem Zeitpunkt bis zu den Typen B und C der 1528 veröffentlichten
Proportionslehre werden die von Vitruv erläuterten Maßangaben immer wieder
benutzt, doch haben sie nie eine entscheidende Bedeutung. Schon in der frühen
Phase ist zwischen etwa 1503 und 1505, wenn die bisher vorgeschlagenen
Datierungen korrekt sind, ein rückgängiges Interesse an Vitruv erkennbar. Erst
zwischen 1506 und 1508 tauchen wieder flüchtige Skizzen und ganze Figuren
nach Vitruv auf.39 Dürer setzte sich also nach seiner zweiten Italienreise wieder
intensiver mit Vitruv auseinander und stellte seine vor dieser Reise
entstandenen konstruierten Figuren dessen Angaben zur Seite. Die Proportionen
aus De architectura konnten, wie die frühen Beispiele zeigen (D.70 und D.91),
32 Vgl. die Literatur oben, Anm.2 und E. FLECHSIG, Albrecht Dürer. Sein Leben und seine
künstlerische Entwicklung, 2Bde., Berlin 1928-1929, S.144-201.
33 London 5228, fol.l61r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.40 (ich beziehe mich auf
London, British Library, Additonal Manuscript, früher bekannt als Sloane Manuscripts).
34 Vgl. E. PANOFSKY, Die Entwicklung der Proportionslehre, S.203 (zit. in Kap. 1.4).
35 London 5228, fol.l50r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.40.
36 London 5231, fol.l4r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.41 (Kopflänge).
37 D.70, fol.l62r (STRAUSS, Dresden Sketchbook, Nr.5, Vitruvs 1/8 und 1/10); D.91, fo!.155r
(STRAUSS, Dresden Sketchbook, Nr.7; Verwendung von Vitruvs 1/6 und 1/10).
38 London 5231, fol.l49r, und fol.14lr (RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.45).
39 London 5231, fol.l42r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.41.; 5228, fols.l64r und
164v (links oben), RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.163.; D.46, fo!.119v (STRAUSS,
Dresden Sketchbook, Nr.10); London 5231, fols.lv und 2r, RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß,
Bd.2, S.166., und fol.4r, ebd., S.169.