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ALBRECHT DÜRER

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sprachlicher Problematik liegen.58 Um 1508 gab es im deutschen
Sprachgebrauch lediglich die »proportz«, die das gebührliche Maß von Dingen
untereinander bezeichnete.59 Die analogia hingegen taucht in deutschsprachigen
Werken des 15. und 16. Jahrhunderts überhaupt nicht auf, symmetria erst ab
1540.60 Es muß daher für Dürer schwer gewesen sein, die in De architectura
beschriebenen und nicht unkomplizierten Beziehungen zwischen Symmetrie,
Analogie und Proportion zu unterscheiden oder in ihnen überhaupt einen Sinn
zu erkennen. Das bestätigt ein gegen 1513 von Dürer mit Hilfe eines
Humanisten formulierter Entwurf zu einer allgemeinen Einleitung in die
Malerei. Anläßlich der Erläuterung des Teilers wird dort die Proportion mit der
Symmetrie gleichgesetzt und »zw teutsch glidmessige auftailunge« genannt.61
Dieses Verständnis widerspricht den Angaben Vitruvs (3.1.1.), der die
Symmetrie als das Ergebnis der griechisch analogia genannten Proportion
bezeichnet. Und auch die deutsche Übersetzung von symmetria als
»glidmessige auftailung« - was im heutigen Sprachgebrauch etwa
»wohlgebildete Aufteilung« lauten müßte62 - ist zu allgemein, um den
ursprünglichen Maßvorstellungen Vitruvs (vgl. Kap. II) gerecht werden zu
können.
Wenn weder Dürer noch sein humanistischer Helfer um 1513 genau wußten,
welche Bedeutung proportio und symmetria eigentlich haben, dann kann
ersterem gegen 1508 noch viel weniger der Inhalt dieser Begriffe klar gewesen
sein. Dürers Verständnis der Angaben Vitruvs war also notwendigerweise
begrenzt, und da er sich nicht in der Lage sah, die ebenfalls einer
Maßvorstellung verpflichtete Anschauung Vitruvs mit seiner eigenen, aus dem
»grunt« der Geometrie gezogenen »mas« zu verbinden, ließ er den von Vitruv
erläuterten Zusammenhang zwischen symmetria und proportio in seiner
bisweilen sehr wörtlichen Übersetzung Vitruvs aus. Im Gegensatz zu Cesariano,
der auf der Grundlage einer fundierteren architektonischen Ausbildung und
einer weitläufigeren Belesenheit die Verbindung von Maß und Geometrie in
Vitruvs Proportionsfigur ausführlich erörterte (vgl. Kap. IX), konnte Dürer die
Schwierigkeit der Terminologie noch nicht lösen. Denn zum einen fehlte ihm
hierfür die Sprache, und zum anderen war in seiner eigenen Sprache, im
Frühneuhochdeutschen eines handwerklich ausgebildeten und (noch) nicht
klassisch geschulten Künstlers, die »mas« nicht eine Sache theoretischer
Terminologie, sondern ein Ergebnis praktischer Geometrie. Hieraus erklärt es
sich auch, warum Dürer, wiederum im Gegensatz zu Cesariano, die von Vitruv
angegebenen Proportionen unabhängig von den mit ihnen beschriebenen
Figuren verwendet. Denn jene sind als Maße in seinem aus der Geometrie, aus
der eigenen Anschauung und aus antiken Vorlagen entwickelten Propor-
tionsschema eher verwendbar als der homo ad quadratum und der homo ad
circulum. Stattdessen fungieren die Figuren als einleitende Bilder für den
Abschnitt über die »glidmos« des Menschen, als ein genuin antikes Etikett für
ein kunsttheoretisches Anliegen.

58 Vgl. hierzu auch die gegenteiligen Auffassungen zusammengefaßt durch RUPPRICH,
Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.102, Anm.18, und S.126, Anm.10.

59 Vgl. GRIMM, Deutsches Wörterbuch, Bd.7, Sp.2168-2169.

60 Vgl. ebd., Bd.10.4, Sp.1393-1395.

61 RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.2, S.136.

62 Vgl. GRIMM, Deutsches Wörterbuch, Bd.4.1.5, Sp.81-82.
 
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