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KAPITEL VI
4. Dürer und die Gelehrten
Die Notwendigkeit dieser Etikettierung ergab sich sowohl für Dürer als auch für
andere Künstler aus der Suche nach einer normativen Richtigkeit, die als Ideal
die formale Richtigkeit komplettieren und theoretisch aufwerten sollte. Eine
erste Sanktionierung seiner Kunst durch die Theorie hatte Dürer bereits durch
seine Antikenkopien und durch seine aus dem »grunt« der Geometrie
vorgenommenen Konstruktionen begonnen, doch fehlte beiden Komponenten
eine literarisch verbürgte Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung ließ sich sowohl
aus Vitruvs Bemerkung über die berühmten antiken Bildner und ihren Kanon
ableiten als auch aus den Künstlergeschichten, die bei Autoren wie Plinius,
Cicero oder Lukian überliefert sind. Dort wird neben anderen Dingen auch die
Bedeutung von Symmetrie und Proportion für die vielgepriesenen antiken
Künstler erläutert, und diese von Plinius dem Maler Parrhasius63 oder den
Bildhauern Polyklet und Phidias64 zugeschriebene Kenntnis der genannten
Maßvorstellungen setzten ein kunsttheoretisches Anspruchsniveau, das auch
ohne ein genaues Verständnis der jeweiligen Begriffe wirksam werden konnte.
Der seit Dante, Petrarca und Boccaccio bis hin zu Filippo Villani und
Christoforo Landino in Italien entwickelte und an antiken Vorbildern orientierte
Lobgesang auf die zeitgenössische Künstlerschaft fand auch nördlich der Alpen
eine Reihe von Nachahmern. So verglich Konrad Celtis den Nürnberger Maler
bereits um 1500, also bevor dieser seine theoretisch sanktionierten Propor-
tionsstudien begonnen hatte, nicht nur mit Apelles und Phidias, sondern pries
auch die ars simmetriae Dürers.65 Die Kenntnis jener antiken Tradition von
Malern und Bildhauern, in die Dürer schon früh gestellt wurde, hat
möglicherweise einen nicht unerheblichen Einfluß auf seine ambitionierten
kunsttheoretischen Pläne gehabt. Dies wird um so wahrscheinlicher, als Dürer
bereits um 1500 nicht nur in engem Kontakt mit Pirckheimer stand, sondern
auch kunstkritische Anregungen von seinem ersten Laudator Conrad Celtis hat
bekommen können.66 Tatsächlich weist Dürers frühes kunsttheoretisches
Schaffen antike Topoi auf, die bisweilen sehr offensichtlich die helfende Hand
eines Humanisten verraten67 und in den zahlreichen Entwürfen zum
Malereitraktat eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Es wird vor diesem
Hintergrund auch verständlich, warum Dürer dem Proportionskapitel seines
Malereitraktats eine sachlich nicht unbedingt notwendige Erläuterung der
Vitruvischen Proportionsfigur voranstellen wollte, denn Vitruv überlieferte ja
63 PLINIUS, Naturalis historia 35.67., Ed. Ferri, S.152-153.
64 Ebd., 34.56-58., Ed. Ferri, S.80-83.
65 Vgl. D. WUTTKE, Unbekannte Celtis-Epigramme zum Lobe Dürers, in: Zeitschrift für
Kunstgeschichte 30.1967, S.321-325. Diesem Lob folgten andere Autoren wie Jakop
Wimpfeling, Christoph Scheurl und Erasmus; vgl. E. PANOFSKY, »Nebulae in Pariete«. Notes
on Erasmus' Eulogy on Dürer, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 14.1951,
S.34-41; RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.l, S.290-297, S.300 und S.302; J.
BIALOSTOCKI, Dürer and his Critics, Baden-Baden 1986, S.15-35.
66 Vgl. WUTTKE, Dürer und Celtis. Von der Bedeutung des Jahres 1500 für den deutschen
Humanismus: Jahrhundertfeier als »symbolische Form«, in: Journal of Medieval and Renaissance
Studies 10.1980, S.73-129.
67 Vgl. etwa eine schon vor 1513 entstandene Abhandlung; RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß,
Bd.2, S.127-128.
5 ,. HEIDELBERG
KAPITEL VI
4. Dürer und die Gelehrten
Die Notwendigkeit dieser Etikettierung ergab sich sowohl für Dürer als auch für
andere Künstler aus der Suche nach einer normativen Richtigkeit, die als Ideal
die formale Richtigkeit komplettieren und theoretisch aufwerten sollte. Eine
erste Sanktionierung seiner Kunst durch die Theorie hatte Dürer bereits durch
seine Antikenkopien und durch seine aus dem »grunt« der Geometrie
vorgenommenen Konstruktionen begonnen, doch fehlte beiden Komponenten
eine literarisch verbürgte Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung ließ sich sowohl
aus Vitruvs Bemerkung über die berühmten antiken Bildner und ihren Kanon
ableiten als auch aus den Künstlergeschichten, die bei Autoren wie Plinius,
Cicero oder Lukian überliefert sind. Dort wird neben anderen Dingen auch die
Bedeutung von Symmetrie und Proportion für die vielgepriesenen antiken
Künstler erläutert, und diese von Plinius dem Maler Parrhasius63 oder den
Bildhauern Polyklet und Phidias64 zugeschriebene Kenntnis der genannten
Maßvorstellungen setzten ein kunsttheoretisches Anspruchsniveau, das auch
ohne ein genaues Verständnis der jeweiligen Begriffe wirksam werden konnte.
Der seit Dante, Petrarca und Boccaccio bis hin zu Filippo Villani und
Christoforo Landino in Italien entwickelte und an antiken Vorbildern orientierte
Lobgesang auf die zeitgenössische Künstlerschaft fand auch nördlich der Alpen
eine Reihe von Nachahmern. So verglich Konrad Celtis den Nürnberger Maler
bereits um 1500, also bevor dieser seine theoretisch sanktionierten Propor-
tionsstudien begonnen hatte, nicht nur mit Apelles und Phidias, sondern pries
auch die ars simmetriae Dürers.65 Die Kenntnis jener antiken Tradition von
Malern und Bildhauern, in die Dürer schon früh gestellt wurde, hat
möglicherweise einen nicht unerheblichen Einfluß auf seine ambitionierten
kunsttheoretischen Pläne gehabt. Dies wird um so wahrscheinlicher, als Dürer
bereits um 1500 nicht nur in engem Kontakt mit Pirckheimer stand, sondern
auch kunstkritische Anregungen von seinem ersten Laudator Conrad Celtis hat
bekommen können.66 Tatsächlich weist Dürers frühes kunsttheoretisches
Schaffen antike Topoi auf, die bisweilen sehr offensichtlich die helfende Hand
eines Humanisten verraten67 und in den zahlreichen Entwürfen zum
Malereitraktat eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Es wird vor diesem
Hintergrund auch verständlich, warum Dürer dem Proportionskapitel seines
Malereitraktats eine sachlich nicht unbedingt notwendige Erläuterung der
Vitruvischen Proportionsfigur voranstellen wollte, denn Vitruv überlieferte ja
63 PLINIUS, Naturalis historia 35.67., Ed. Ferri, S.152-153.
64 Ebd., 34.56-58., Ed. Ferri, S.80-83.
65 Vgl. D. WUTTKE, Unbekannte Celtis-Epigramme zum Lobe Dürers, in: Zeitschrift für
Kunstgeschichte 30.1967, S.321-325. Diesem Lob folgten andere Autoren wie Jakop
Wimpfeling, Christoph Scheurl und Erasmus; vgl. E. PANOFSKY, »Nebulae in Pariete«. Notes
on Erasmus' Eulogy on Dürer, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 14.1951,
S.34-41; RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß, Bd.l, S.290-297, S.300 und S.302; J.
BIALOSTOCKI, Dürer and his Critics, Baden-Baden 1986, S.15-35.
66 Vgl. WUTTKE, Dürer und Celtis. Von der Bedeutung des Jahres 1500 für den deutschen
Humanismus: Jahrhundertfeier als »symbolische Form«, in: Journal of Medieval and Renaissance
Studies 10.1980, S.73-129.
67 Vgl. etwa eine schon vor 1513 entstandene Abhandlung; RUPPRICH, Schriftlicher Nachlaß,
Bd.2, S.127-128.
5 ,. HEIDELBERG