ALBRECHT DÜRER
103
Wie alt nun dise kunst sey/ wer sy erstlich erfunden hab/ in was ansehen vnd
wirden sy etwan pey den Kriechen vnnd Ro[e]mern gewest sey [...]/ dauon ist yetz
on not zuschreiben/ wer aber des wissen zuhaben begert/ der lese Plinium vnd
Vitruuium/ so wirdet er derhalb gnugsame vnderricht empfahen.75
Angesichts seiner umfangreichen eigenen Proportionsstudien hatten für Dürer
die beiden antiken Vorgaben an Bedeutung verloren; die Proportionsfigur
Vitruvs, die um 1508 noch als Etikett für ein an der Antike orientiertes Ideal
fungierte, und die Berufung auf die antiken Bildner, deren symmetria und
proportio in der frühen Phase von Dürers Kunsttheorie noch unverzichtbar
schienen, waren nun, nach zwanzigjährigem Studium der Materie, nicht mehr
relevant genug, um einen prominenten Platz in seiner Proportionslehre
einnehmen zu können. Dürer hatte sich sein Ideal zu diesem Zeitpunkt selbst
erarbeitet und damit Voraussetzungen geschaffen, die sein Verhältnis zur
Antike veränderten.
Dürers Proportionslehre im allgemeinen und seine Bearbeitung der
Vitruvischen Proportionsfigur im besonderen verdeutlichen, wie die anfängliche
Faszination mit der sowohl bildnerisch als auch literarisch angeeigneten Antike
zu einer relativierbaren Angelegenheit hatte werden können. Vitruvs homo ad
quadratum und homo ad circulum sollten im 1508 projektierten Malereitraktat
dem Abschnitt über die »mas« des Menschen voranstehen, doch sie verloren
im Laufe der jahrelangen Proportionsstudien ihren Wert als Ideal. Da Dürer die
Möglichkeit entwickelte, dem bewunderten antiken Ideal eine empirisch
erarbeitete Alternative entgegenzusetzen, schmückten Vitruvs Figuren nicht das
Titelblatt der Proportionslehre; sie verblieben im Stadium des Entwurfs. Damit
hatte Albrecht Dürer - wie vor ihm Francesco di Giorgio Martini, aber im
Gegensatz zu Lorenzo Ghiberti - die Notwendigkeit überwunden, ein der
Antike entlehntes Bild dem eigenen Werk als Signum voranstellen zu müssen.
75 ALBRECHT DÜRER, Vier Bücher von menschlicher Proportion, Nürnberg 1528, fol.Aijv.
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Wie alt nun dise kunst sey/ wer sy erstlich erfunden hab/ in was ansehen vnd
wirden sy etwan pey den Kriechen vnnd Ro[e]mern gewest sey [...]/ dauon ist yetz
on not zuschreiben/ wer aber des wissen zuhaben begert/ der lese Plinium vnd
Vitruuium/ so wirdet er derhalb gnugsame vnderricht empfahen.75
Angesichts seiner umfangreichen eigenen Proportionsstudien hatten für Dürer
die beiden antiken Vorgaben an Bedeutung verloren; die Proportionsfigur
Vitruvs, die um 1508 noch als Etikett für ein an der Antike orientiertes Ideal
fungierte, und die Berufung auf die antiken Bildner, deren symmetria und
proportio in der frühen Phase von Dürers Kunsttheorie noch unverzichtbar
schienen, waren nun, nach zwanzigjährigem Studium der Materie, nicht mehr
relevant genug, um einen prominenten Platz in seiner Proportionslehre
einnehmen zu können. Dürer hatte sich sein Ideal zu diesem Zeitpunkt selbst
erarbeitet und damit Voraussetzungen geschaffen, die sein Verhältnis zur
Antike veränderten.
Dürers Proportionslehre im allgemeinen und seine Bearbeitung der
Vitruvischen Proportionsfigur im besonderen verdeutlichen, wie die anfängliche
Faszination mit der sowohl bildnerisch als auch literarisch angeeigneten Antike
zu einer relativierbaren Angelegenheit hatte werden können. Vitruvs homo ad
quadratum und homo ad circulum sollten im 1508 projektierten Malereitraktat
dem Abschnitt über die »mas« des Menschen voranstehen, doch sie verloren
im Laufe der jahrelangen Proportionsstudien ihren Wert als Ideal. Da Dürer die
Möglichkeit entwickelte, dem bewunderten antiken Ideal eine empirisch
erarbeitete Alternative entgegenzusetzen, schmückten Vitruvs Figuren nicht das
Titelblatt der Proportionslehre; sie verblieben im Stadium des Entwurfs. Damit
hatte Albrecht Dürer - wie vor ihm Francesco di Giorgio Martini, aber im
Gegensatz zu Lorenzo Ghiberti - die Notwendigkeit überwunden, ein der
Antike entlehntes Bild dem eigenen Werk als Signum voranstellen zu müssen.
75 ALBRECHT DÜRER, Vier Bücher von menschlicher Proportion, Nürnberg 1528, fol.Aijv.