108
KAPITEL VII
mathematischen Lehrbüchern.25 Demgegenüber gehörten im ausgehenden
Mittelalter und in der frühen Neuzeit arithmetische Kalkulationen in Form pro-
portionaler Gleichungen zur Schulung26 und zum Alltag jener Personen, die
Berechnungen verschiedenster Art durchzuführen hatten. Die Begriffe »Propor-
tion« und »Proportionalität« waren also in der frühen Neuzeit von einer
praktischen Bedeutung, die heute kaum noch gewürdigt wird.27 In seiner breit
angelegten Darstellung dieser Zusammenhänge versteht Pacioli Proportion, Pro-
portionalität, Arithmetik und Geometrie als Teil einer sowohl Theorie als auch
Praxis umfassenden mathematischen Wissenschaft, deren Anwendungsbereiche
so vielfältig sind wie das Leben selbst. Er betont daher, daß die mathematischen
Wissenschaften und ihre Proportionen notwendig seien, um allen praktischen
Tätigkeiten »feste Regeln und vollkommenste Maßstäbe« zu geben, denn sie
seien durch ihre Allgemeinheit in allen Dingen verwendbar.28 Dieser Aussage
folgt eine ausführliche Auflistung jener Künste und Fächer, in denen die
Verwendung der mathematischen Wissenschaften und der Proportionen so
unerläßlich wie selbstverständlich ist. Und zwar gebrauche man sie in der Ar-
chitektur zur Proportionierung der Gebäude, in der Perspektive zur Bestimmung
der Dimensionen, in der Musik zur Definition von Tonabständen, in der
Kartographie (cosmografia) für die Zuverlässigkeit der Landkarten, im Handel
ohnehin, in der Kriegskunst zur Bestimmung der Kaliber, in der Dichtung zur
Festsetzung des Versmaßes, in der Grammatik zur Normierung von Rede und
Schrift, in der Rhetorik zur Bestimmung der sukzessiven Redefiguren, in der
Rechtsprechung zur gerechten Teilung des Erbes und in der Philosophie zur
Bestimmung der Kräfte und Bewegungen des Himmels.29
Die Breite der von Pacioli erörterten Auffassung zeugt von einem Pro-
portionsbegriff, der sowohl die alltägliche Praxis des duodezimal kalkulierten
Messens und Wiegens als auch die Theorien philosophischer und künstlerischer
Art umfaßte. Proportion und Proportionalität sind dabei Begriffe jener
praktischen Arithmetik, die mit dem Aufschwung des Mittelmeerhandeis zu
immenser Bedeutung gelangte, und deren kaufmännischer Gebrauch für ihre
weite Verbreitung sorgte.30 Die praktische Relevanz der ars metrica verdeutlicht
zum Beispiel eine ferraresische Darstellung des 15. Jahrhunderts, in der die
Arithmetik durch eine geldzählende Frau personifiziert wurde.31 Die
bekannteste Form dieser praktischen Arithmetik war der Dreisatz, eine regola
delle tre cose genannte Rechenoperation, die auf der Proportionalität des
geometrischen Mittels beruht. In einer Gleichung mit drei Bekannten und einer
25 Vgl. TROPFKE, Geschichte der Mathematik, Bd.3, S.3-4.
26 Vgl. G. ARRIGHI, La matematica a Firenze nel Rinascimento. II Codice Ottoboniano Latino
3307 della Biblioteca Apostolica Vaticana, in: Physis. Rivista internazionale di storia della
scienza 10.1968, S.70-82, bes. S.72-74; R. A. GOLDTHWAITE, Schools and Teachers of
Commercial Arithmetic in Renaissance Florence, in: Journal of European Economic History
1.1972, S.418-433.
27 Zu ihrer Bedeutung für die Malerei des 15. Jahrhunderts vgl. M. BAXANDALL, Painting and
Experience in Fifteenth Century Italy. A Primer in the Social History of Pictoral Style, Oxford
1972.
28 PACIOLI, Summa, Epistola, fol.2r.
29 Ebd., fol.2, und ebd., I, fols.68r-69r.
30 Vgl. M. CANTOR, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, 3Bde., 2.Aufl., Leipzig
1907-1924, Bd.2., S.3-4 und passim.
31 Vgl. A. M. HIND, Early Italian Engraving. A Critical Catalogue with Complete Reproduction
of all the Prints Described, 7Bde., London 1938-1948, Bd.4, Taf.344.
KAPITEL VII
mathematischen Lehrbüchern.25 Demgegenüber gehörten im ausgehenden
Mittelalter und in der frühen Neuzeit arithmetische Kalkulationen in Form pro-
portionaler Gleichungen zur Schulung26 und zum Alltag jener Personen, die
Berechnungen verschiedenster Art durchzuführen hatten. Die Begriffe »Propor-
tion« und »Proportionalität« waren also in der frühen Neuzeit von einer
praktischen Bedeutung, die heute kaum noch gewürdigt wird.27 In seiner breit
angelegten Darstellung dieser Zusammenhänge versteht Pacioli Proportion, Pro-
portionalität, Arithmetik und Geometrie als Teil einer sowohl Theorie als auch
Praxis umfassenden mathematischen Wissenschaft, deren Anwendungsbereiche
so vielfältig sind wie das Leben selbst. Er betont daher, daß die mathematischen
Wissenschaften und ihre Proportionen notwendig seien, um allen praktischen
Tätigkeiten »feste Regeln und vollkommenste Maßstäbe« zu geben, denn sie
seien durch ihre Allgemeinheit in allen Dingen verwendbar.28 Dieser Aussage
folgt eine ausführliche Auflistung jener Künste und Fächer, in denen die
Verwendung der mathematischen Wissenschaften und der Proportionen so
unerläßlich wie selbstverständlich ist. Und zwar gebrauche man sie in der Ar-
chitektur zur Proportionierung der Gebäude, in der Perspektive zur Bestimmung
der Dimensionen, in der Musik zur Definition von Tonabständen, in der
Kartographie (cosmografia) für die Zuverlässigkeit der Landkarten, im Handel
ohnehin, in der Kriegskunst zur Bestimmung der Kaliber, in der Dichtung zur
Festsetzung des Versmaßes, in der Grammatik zur Normierung von Rede und
Schrift, in der Rhetorik zur Bestimmung der sukzessiven Redefiguren, in der
Rechtsprechung zur gerechten Teilung des Erbes und in der Philosophie zur
Bestimmung der Kräfte und Bewegungen des Himmels.29
Die Breite der von Pacioli erörterten Auffassung zeugt von einem Pro-
portionsbegriff, der sowohl die alltägliche Praxis des duodezimal kalkulierten
Messens und Wiegens als auch die Theorien philosophischer und künstlerischer
Art umfaßte. Proportion und Proportionalität sind dabei Begriffe jener
praktischen Arithmetik, die mit dem Aufschwung des Mittelmeerhandeis zu
immenser Bedeutung gelangte, und deren kaufmännischer Gebrauch für ihre
weite Verbreitung sorgte.30 Die praktische Relevanz der ars metrica verdeutlicht
zum Beispiel eine ferraresische Darstellung des 15. Jahrhunderts, in der die
Arithmetik durch eine geldzählende Frau personifiziert wurde.31 Die
bekannteste Form dieser praktischen Arithmetik war der Dreisatz, eine regola
delle tre cose genannte Rechenoperation, die auf der Proportionalität des
geometrischen Mittels beruht. In einer Gleichung mit drei Bekannten und einer
25 Vgl. TROPFKE, Geschichte der Mathematik, Bd.3, S.3-4.
26 Vgl. G. ARRIGHI, La matematica a Firenze nel Rinascimento. II Codice Ottoboniano Latino
3307 della Biblioteca Apostolica Vaticana, in: Physis. Rivista internazionale di storia della
scienza 10.1968, S.70-82, bes. S.72-74; R. A. GOLDTHWAITE, Schools and Teachers of
Commercial Arithmetic in Renaissance Florence, in: Journal of European Economic History
1.1972, S.418-433.
27 Zu ihrer Bedeutung für die Malerei des 15. Jahrhunderts vgl. M. BAXANDALL, Painting and
Experience in Fifteenth Century Italy. A Primer in the Social History of Pictoral Style, Oxford
1972.
28 PACIOLI, Summa, Epistola, fol.2r.
29 Ebd., fol.2, und ebd., I, fols.68r-69r.
30 Vgl. M. CANTOR, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, 3Bde., 2.Aufl., Leipzig
1907-1924, Bd.2., S.3-4 und passim.
31 Vgl. A. M. HIND, Early Italian Engraving. A Critical Catalogue with Complete Reproduction
of all the Prints Described, 7Bde., London 1938-1948, Bd.4, Taf.344.