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KAPITEL VII
angesichts der einerseits nicht sehr verständigen und andererseits auf der
Kenntnis der martinianischen Zeichnung beruhenden Ausführungen Paciolis zu
Vitruvs Proportionsfigur ist dies unwahrscheinlich.
Neben seiner Interpretation des architektonischen Anthropomorphismus, die
er aus antiken (Vitruv und Platon), mittelalterlichen (Honorius) und
zeitgenössischen Quellen (Francesco di Giorgio) kombiniert, erläutert Pacioli
auch die Bedeutung der gleichfalls anthropomorph hergeleiteten Metrologie für
die Baukunst. Deren Standardmaße belegen (neben der unmittelbar anthropo-
morphen Architekturauffassung) die Relevanz der menschlichen Proportionen
für die Gebäude:
Nämlich zuerst werden wir von den menschlichen Proportionen bezüglich seines
[d.i. des menschlichen] Körpers und seiner Glieder reden, weil vom menschlichen
Körper jedes Maß mit seinen Benennungen stammt und man in demselben alle
Arten von Proportionen und von Proportionalität mit dem Finger[zeig] des
Allmächtigsten mittels der inneren Geheimnisse der Natur antrifft (se ritroua).
Und deswegen sind alle unsere Maße und Instrumente nach festgesetzten
(deputati) Dimensionen für die Öffentlichkeit und die Privatheit nach dem
menschlichen Körper benannt worden, wie es gesagt wurde; das eine [Maß] wird
[kleine] Elle (bracio), das andere Klafter (passo), das andere Fuß (pede), Querhand
(palmo), Elle (cubito), Fingerbreite (digito), Kopf (testa) usw. genannt. Und
ebenso sollen wir, wie unser Vitruv sagt, ihm ähnlich, jedes Gebäude mit dem
ganzen, nach seinen Gliedern ebenmäßigen Körper entsprechend propor-
tionieren.62
Man findet im menschlichen Körper also nicht nur die offiziell festgelegten
Standardmaße und Meßinstrumente, sondern auch ihre Namen und Be-
zeichnungen. Pacioli bezieht sich dabei auf den Umstand, daß eine Elle sowohl
den betreffenden Teil des menschlichen Körpers als auch das Ellenmaß und den
Ellenmaßstab benennen kann. Gleichzeitig sind dem Körper alle Arten von Pro-
portionen und Proportionalitäten zu entnehmen; wenn man den in der Summa
entwickelten logisch-mathematischen Proportionsbegriff sowie das seinerzeit
gültige anthropomorphe Maßsystem zugrundelegt, dann meint Pacioli hiermit
die proportionalen Verhältnisse, die zwischen den einzelnen anthropomorphen
Standardmaßen bestehen und die auf den Konventionen des
Duodezimalsystems basieren. Diesem System entsprechend definiert Pacioli die
anthropomorphen Standardmaße als festgelegte Dimensionen (dimensioni
deputati), die in einem fixierten Verhältnis zueinander stehen. Die Elle etwa ist
ein Viertel oder der Fuß ein Sechstel des Klafters, so daß sich die Elle zum
Klafter wie eins zu vier und der Fuß zum Klafter wie eins zu sechs verhalten.
Gleichzeitig könnte die Beziehung zwischen Fuß und Elle auch als das
Verhältnis von vier zu sechs Handbreiten ausgedrückt werden. Diese auf
metrologischen Konventionen beruhenden Proportionen sind praktisch relevant,
wenn einer maßstäblichen Zeichnung der Fuß und dem Original der Klafter als
Maß zugrundegelegt würde. Die Proportion der maßstäblichen Übertragung
(wie wir heute sagen, der Maßstab) wäre in diesem Fall 1:6, da der Klafter
62 Cioe primo diremo dela humana proportione respecto al suo corpo e membri pero ehe dal corpo
humano ogni mesura con sue denominationi deriua e in epso tutte sorti de proportioni e propor-
tionalita se ritroua con lo deto de laltissimo [digitus Dei, vgl. l.Moses 8.15 und Lukas 11.20.]
mediante li intrinseci secreti dela natura. E per questo tutte nostre mesure e instrumenti a
dimensioni deputati perli publici e priuati comme e dicto sonno denominate dal corpo humano
luna detto bracio laltro passo. laltro pede. palma. cubito. digito. testa. etc. E cosi comme dici el
nostro Victruuio a sua similitudine dobiam proportionare ogni hedeficio con tutto el corpo ben a
suoi membri proportionato. PACIOLI, Divina proportione, S.129.
KAPITEL VII
angesichts der einerseits nicht sehr verständigen und andererseits auf der
Kenntnis der martinianischen Zeichnung beruhenden Ausführungen Paciolis zu
Vitruvs Proportionsfigur ist dies unwahrscheinlich.
Neben seiner Interpretation des architektonischen Anthropomorphismus, die
er aus antiken (Vitruv und Platon), mittelalterlichen (Honorius) und
zeitgenössischen Quellen (Francesco di Giorgio) kombiniert, erläutert Pacioli
auch die Bedeutung der gleichfalls anthropomorph hergeleiteten Metrologie für
die Baukunst. Deren Standardmaße belegen (neben der unmittelbar anthropo-
morphen Architekturauffassung) die Relevanz der menschlichen Proportionen
für die Gebäude:
Nämlich zuerst werden wir von den menschlichen Proportionen bezüglich seines
[d.i. des menschlichen] Körpers und seiner Glieder reden, weil vom menschlichen
Körper jedes Maß mit seinen Benennungen stammt und man in demselben alle
Arten von Proportionen und von Proportionalität mit dem Finger[zeig] des
Allmächtigsten mittels der inneren Geheimnisse der Natur antrifft (se ritroua).
Und deswegen sind alle unsere Maße und Instrumente nach festgesetzten
(deputati) Dimensionen für die Öffentlichkeit und die Privatheit nach dem
menschlichen Körper benannt worden, wie es gesagt wurde; das eine [Maß] wird
[kleine] Elle (bracio), das andere Klafter (passo), das andere Fuß (pede), Querhand
(palmo), Elle (cubito), Fingerbreite (digito), Kopf (testa) usw. genannt. Und
ebenso sollen wir, wie unser Vitruv sagt, ihm ähnlich, jedes Gebäude mit dem
ganzen, nach seinen Gliedern ebenmäßigen Körper entsprechend propor-
tionieren.62
Man findet im menschlichen Körper also nicht nur die offiziell festgelegten
Standardmaße und Meßinstrumente, sondern auch ihre Namen und Be-
zeichnungen. Pacioli bezieht sich dabei auf den Umstand, daß eine Elle sowohl
den betreffenden Teil des menschlichen Körpers als auch das Ellenmaß und den
Ellenmaßstab benennen kann. Gleichzeitig sind dem Körper alle Arten von Pro-
portionen und Proportionalitäten zu entnehmen; wenn man den in der Summa
entwickelten logisch-mathematischen Proportionsbegriff sowie das seinerzeit
gültige anthropomorphe Maßsystem zugrundelegt, dann meint Pacioli hiermit
die proportionalen Verhältnisse, die zwischen den einzelnen anthropomorphen
Standardmaßen bestehen und die auf den Konventionen des
Duodezimalsystems basieren. Diesem System entsprechend definiert Pacioli die
anthropomorphen Standardmaße als festgelegte Dimensionen (dimensioni
deputati), die in einem fixierten Verhältnis zueinander stehen. Die Elle etwa ist
ein Viertel oder der Fuß ein Sechstel des Klafters, so daß sich die Elle zum
Klafter wie eins zu vier und der Fuß zum Klafter wie eins zu sechs verhalten.
Gleichzeitig könnte die Beziehung zwischen Fuß und Elle auch als das
Verhältnis von vier zu sechs Handbreiten ausgedrückt werden. Diese auf
metrologischen Konventionen beruhenden Proportionen sind praktisch relevant,
wenn einer maßstäblichen Zeichnung der Fuß und dem Original der Klafter als
Maß zugrundegelegt würde. Die Proportion der maßstäblichen Übertragung
(wie wir heute sagen, der Maßstab) wäre in diesem Fall 1:6, da der Klafter
62 Cioe primo diremo dela humana proportione respecto al suo corpo e membri pero ehe dal corpo
humano ogni mesura con sue denominationi deriua e in epso tutte sorti de proportioni e propor-
tionalita se ritroua con lo deto de laltissimo [digitus Dei, vgl. l.Moses 8.15 und Lukas 11.20.]
mediante li intrinseci secreti dela natura. E per questo tutte nostre mesure e instrumenti a
dimensioni deputati perli publici e priuati comme e dicto sonno denominate dal corpo humano
luna detto bracio laltro passo. laltro pede. palma. cubito. digito. testa. etc. E cosi comme dici el
nostro Victruuio a sua similitudine dobiam proportionare ogni hedeficio con tutto el corpo ben a
suoi membri proportionato. PACIOLI, Divina proportione, S.129.