Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0135
License: Creative Commons - Attribution - ShareAlike
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
VITRUVSTUDIEN UND VITRUVAUSGABEN

125

Dieweil solche herliche bildnus von Got dem Herren/ selber nach seiner gleichnus
erschaffen und gebildet [worden ist] [...], wir nit allein den Artzen vn[d]
Anatomisten/ vn[d] fu[e]rnemlich den natu[e]rliche[n] Philosophen/ sonder alle[n]
Kunstliebhabern/ die solchs wunderwerck mit fleiß beschawet haben/ wol zu
wissen [empfehlen]/ darum[b] sich nit zu verwundern/ das die alten nach solcher
gerechtesten vnd eygentlichsten Sym[m]etri vnnd proportion/ ire werck als aus
einem Goetlichen grundt einer sonderlichen herlichen vnd nach Got gebildeten
Person/ in solche Simmetria vnd proportion gebraucht haben/ wie dann der
Mensch von den a[e]ltisten vnnd fleissigisten erku[e]ndigern der natur/ die kleiner
weit (denn solchs bedeut Microcosmus) genannt worden/ dan[n] sie vermeinten
die schickung der Symmetri aller Himlischen vnd yrdischen Gescho[e]pff/ sich
mit der glidmassung Menschlichs Corpers vbereintreffe/ daher dann auch von
solcher glidmassung proportion/ die zal jren grundt vnnd anfang genomen haben
sol/ als wol als alle andere werck/ so durch die Architectur volbracht werden/ wie
vns dann die obgesetzten Figuren droben mit jrer erklerung gnugsam anzeigen.36
Im Rückgriff auf die Antike, auf die Praxis der »Alten«, formuliert Ryff den
Gemeinplatz von der gottesebenbildlichen Vornehmheit des Menschen, welche
die Begründung für eine anthropomorphe Architekturauffassung abgebe. Wie
vor ihm Sagredo fügt er einen weiteren Topos hinzu, nämlich den vom
Menschen als Mikrokosmos, um erneut die Eignung und Würde des
menschlichen Körpers hinsichtlich seiner architektonischen Nützlichkeit zu
betonen: denn nicht nur der Mensch an sich, sondern auch der Mensch in seiner
Eigenschaft als verkleinertes Abbild der weltlichen wie außerweltlichen
Zusammenhänge sei zu Recht das Vorbild für architektonische Werke.
Ausgehend von dieser Auffassung könnte man schließlich auch das Gebäude
und besonders das Kirchengebäude als Abbild des von Gott geschaffenen
Kosmos interpretieren. Von hier aus führt dann eine ikonologische Induktion zu
der weitergehenden Auslegung, daß Vitruvs in Kreis und Quadrat
einzuschreibende Proportionsfigur für Ryff und Sagredo eine besondere, im
heutigen Sinne symbolische »Bedeutung« gehabt habe. Doch ginge diese
methodische Induktion an der eigentlichen Aussage der vorliegenden Texte und
Illustrationen vorbei, denn bezeichnenderweise geht Ryff auf eine solche
symbolische Interpretation von Kreis und Quadrat nicht ein, während Sagredo
anläßlich der Angaben Vitruvs wiederum völlig andere Gedanken entwickelt.
Die Ausführungen Ryffs und Sagredos belegen die Interessen, in deren
individuellen Grenzen sich die Auslegungen des 16. Jahrhunderts bewegten,
und sie verdeutlichen erneut die Unterschiede, die zwischen historisch zurück-
liegenden Interpretationen und ihrem heutigen Verständnis, zwischen
tatsächlich verifizierbaren Auffassungen und einer Symbolik bestehen.
Einen anderen Standpunkt als den der genannten Kommentatoren nehmen
Jean Martin (gest. ca.1553), der Übersetzer, und Jean Goujon (gest.
ca.1564/1568), der Illustrator der ersten französischen Vitruvausgabe ein.
Obwohl der zuerst 1547 erschienene Foliant keine direkten Kommentare
enthält, geben der Text Martins und dessen Illustration durch Goujon Aufschluß
über die Gedanken der beiden Franzosen. Die Übersetzung folgt - im Falle des
Proportionskanons - nicht den Inkunabeldrucken, sondern der durch Giocondo
eingeführten Korruption, und der Übersetzer greift gelegentlich paraphrasierend
und sogar erläuternd in den Text ein, etwa um die Dimensionen von Fuß, Elle
und Brust näher zu bestimmen.37 Sein Verständnis des homo ad quadratum läßt

36 RYFF, Vitruvius Teutsch, fo!.102r-v.

37 MARTIN, Architectvre, fol.Ejvv.
 
Annotationen