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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0151
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CESARE CESARIANO

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und es ist sicher kein Zufall, daß Vasari ihn in der Vita Bramantes als einen
ausgezeichneten Geometer lobt, während er Bramante selbst, dem Lehrer
Cesarianos, technische und praktische Unzulänglichkeiten bescheinigt. An
gleicher Stelle erwähnt er auch jene Architekten, die die von Bramante
entworfenen Bauten tatsächlich ausführten.65 Cesariano erfüllte die meiste Zeit
seines Lebens solche ausführenden architektonischen Funktionen; erst 1528
wird er als architetto Mitglied der Kommission der Mailänder Dombauhütte
und damit mehr ein Berater als ein bloßer Handwerker.66 Aus der Tatsache, daß
Cesariano in den Jahren vor der Fertigstellung seines Vitruvkommentars eben
jenem eher für die Bauausführung zuständigen Architektentypus angehörte,
erklärt sich auch, warum er, abgesehen von der sehr fragwürdigen
Zuschreibung des Vorhofes von Santa Maria presso San Celso, für keinen Bau
seiner Zeit als entwerfender Architekt namhaft gemacht werden kann.
Der Streit um die Zuschreibung eines bestimmten Entwurfs im Sinne einer
heute damit assoziierten Originalität läßt sich vermeiden, wenn man den
praktischen Verlauf des sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden
Bauvorhabens in Betracht zieht. Während dieser Zeitspanne wurde eine große
Zahl unterschiedlichster Aufträge an verschiedene individuelle Spezialisten,
Werkleute und Arbeitsgruppen vergeben. Im Geflecht dieser wechselnden Be-
schäftigungsverhältnisse bekleidete der magistro Cesariano gegen Ende des
Jahres 1513 die temporäre Funktion eines architetto, und 1514 wurde ihm für
die im Vorjahr verfertigten modelli und für desegno uno per la fazada sowie für
la intavoladura de piaza der Betrag von 7 Lire ausbezahlt.67 Mit intavoladura
de piaza ist allem Anschein nach eine handwerkliche Arbeit wie die
Ausführung eines Fußbodenbelags gemeint, denn intauolature bezieht sich im
Sprachgebrauch des 16. Jahrhunderts auf Vertäfelungen mit Marmorplatten.68 In
Anbetracht dieser eher unselbständigen und handwerklichen Panellie-
rungsarbeiten ist es unwahrscheinlich, daß mit den modelli und dem disegno ein
größerer Entwurf im Sinne schöpferischer Originalität gemeint war. Man darf
auch aus der Gesamtheit der Bauakten nicht schließen, daß modello und disegno
immer ein Modell oder eine Zeichnung in der Bedeutung eines Original-
entwurfs bezeichneten. Vielmehr können Ausdrücke wie disegno, modello,
modellino, modus und forma - besonders wenn sie im Plural auftauchen - auch
auf Zeichnungen oder plastische Vorbilder für Teile des Gesamtbaus und Archi-
tekturdetails verweisen. Von solchen Entwürfen unterschiedlichster Art handelt
Cesariano im Comasker Vitruv, wenn er die Notwendigkeit einer forma oder
formatione betont, die als möglichst korrektes Abbild der projektierten Sache
jedes zur Architektur gehörige Teil spezifiziert und demonstriert.69 Forma kann
sich in diesem Zusammenhang sowohl auf den originellen Entwurf eines
Grundrißes beziehen als auch auf das unselbständig verfertigte Holzmodell
eines Kapitells. Eine zunehmende Benutzung von formae verschiedenster Art,

65 VASARI, Le vite, Bd.4, S.155-158; vgl. J. S. ACKERMAN, Notes on Bramante's Bad
Reputation, in: Studi Bramanteschi. Atti del congresso internazionale, Milano-Urbino-Roma
1970, Rom 1974, S.339-349.

66 Vgl. KRINSKY, Cesariano's Vitruvius, S.9.

67 Vgl. BARONI, Documenti, S.215-288, bes. S. 248-253, 263, 267; KRINSKY, Cesariano's
Vitruvius, S.8.

68 Vgl. COSIMO BARTOLI, L'Architettura di Leonbatista Alberti tradotta in lingva Fiorentina,
Venedig 1565, S.185.

69 CESARIANO, Vitruuio, fol.l3v.
 
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