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KAPITEL X
berufliche Stellung konnte auf unterschiedliche Art und Weise definiert
gewesen sein, etwa durch den Posten eines Sekretärs, die Verpflichtung als
Privat- oder Hochschullehrer, die Anstellung als Chronist einer öffentlichen
Körperschaft oder die Funktion als »Ruhmesverkünder«8 eines Herrschers oder
Klerikers. Was sie trotz der Verschiedenartigkeit ihrer Verpflichtungen
gegenüber Gönnern und Geldgebern vereinte, war neben dem Interesse an
antiker Kultur die für deren Bergung und Verständnis notwendige Arbeitsweise.
Auf der philologischen Seite bestand diese Arbeitsweise zunächst in der Sicher-
stellung antiker Autoren; es folgte auf sprachlicher Basis die Korrektur und
Emendierung der oft korrupt überlieferten Texte, sodann die Kommentierung
schwieriger Passagen und Begriffe mit verständnisfördernder Information sowie
schließlich, ab der Mitte des 15. Jahrhunderts, ihre Herausgabe im Druck. Auf
diese Weise wurden antike Autoren von den aufeinanderfolgenden Gelehrten-
generationen zugänglich, lesbar und verständlich gemacht.9
Philandriers erster Beitrag zur von den Humanisten betriebenen klassischen
Philologie, sein 1535 erschienener Quintiliankommentar, war ein Versuch, sich
in den humanistischen Arbeitstechniken der Textkritik und -emendation zu
profilieren. Unternehmungen dieser Art zählten zu den Tätigkeiten eines
ambitionierten Gelehrten, und Philandrier folgt in seinem Erstlingswerk dem
üblichen Muster philologischer Textkritik. Er korrigierte ihm zweifelhaft
erscheinende Textstellen und erläuterte die Bedeutung ungewöhnlicher Namen
und Bezeichnungen mithilfe anderer antiker Autoren. Als er dieselbe
Arbeitstechnik einige Jahre später auch auf Vitruvs De architectura anwandte,
hatten sich die Voraussetzungen für seine Vorgehensweise entscheidend
geändert. Durch seine Verantwortlichkeit für die Bauprogramme George
d'Armagnacs und durch seine unter der Führung Sebastiano Serlios in Venedig
und später in Rom vorgenommenen archäologischen und architektonischen
Studien, durch seine inzwischen gewachsene Vertrautheit mit antiken und
zeitgenössischen Autoren sowie durch die Berücksichtigung von Vitruv-
manuskripten schuf er sich eine gegenüber dem Quintiliankommentar
verbesserte Ausgangsposition.
Philandrier beginnt seine Anmerkungen zu Vitruv mit einem im 15. und 16.
Jahrhundert nicht immer unangefochtenen Beweis seiner Zugehörigkeit zur
Gilde der Cicero imitierenden10 Humanisten:
Wir lesen, unbesiegbarster König, daß es eine Zeit gab, als die Menschen zerstreut
und verteilt wie Tiere in Bergen und Wäldern herumschweiften und mit viehischer
Nahrung ihr Leben fristeten. Noch nicht hatten sie, durch den Rat der klugen oder
die Rede wortgewandter Männer eingenommen und aus ihrem wilden und
unzivilisierten Dasein zu unserer menschlichen und bürgerlichen Lebensweise
geführt, sich mit Verschanzungen und Mauern umgeben. Und im Anfang, als sie
dies taten, um sich und die Ihren vor widrigen Stürmen zu schützen und sichere
Zuflucht vor der Sonnenhitze zu haben, da begannen einige, aus Laubwerk
Abdeckungen zu verfertigen, andere begannen, Höhlen zu graben; diejenigen aber,
die mehr Verstand hatten, begannen, nachdem sie Gabelhölzer aufgerichtet und
8 Vgl. J. BURCKHARDT, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860,
S.142-154; E. ZILSEL, Die Entstehung des Geniebegriffes. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der
Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen 1926, bes. S.111-211.
9 Vgl. L. D. REYNOLDS/N. G. WILSON, Scribes and Scholars. A Guide to the Transmission of
Greek and Latin Literature, 2.Aufl., Oxford 1974; R. PFEIFFER, Classical Scholarship from
1300 to 1850, Oxford 1976.
10 Vgl. ZILSEL, Entstehung des Geniebegriffes, S.214-225; REYNOLDS/WILSON, Scribes,
S.147-148; PFEIFFER, Classical Scholarship, S.53-54.
KAPITEL X
berufliche Stellung konnte auf unterschiedliche Art und Weise definiert
gewesen sein, etwa durch den Posten eines Sekretärs, die Verpflichtung als
Privat- oder Hochschullehrer, die Anstellung als Chronist einer öffentlichen
Körperschaft oder die Funktion als »Ruhmesverkünder«8 eines Herrschers oder
Klerikers. Was sie trotz der Verschiedenartigkeit ihrer Verpflichtungen
gegenüber Gönnern und Geldgebern vereinte, war neben dem Interesse an
antiker Kultur die für deren Bergung und Verständnis notwendige Arbeitsweise.
Auf der philologischen Seite bestand diese Arbeitsweise zunächst in der Sicher-
stellung antiker Autoren; es folgte auf sprachlicher Basis die Korrektur und
Emendierung der oft korrupt überlieferten Texte, sodann die Kommentierung
schwieriger Passagen und Begriffe mit verständnisfördernder Information sowie
schließlich, ab der Mitte des 15. Jahrhunderts, ihre Herausgabe im Druck. Auf
diese Weise wurden antike Autoren von den aufeinanderfolgenden Gelehrten-
generationen zugänglich, lesbar und verständlich gemacht.9
Philandriers erster Beitrag zur von den Humanisten betriebenen klassischen
Philologie, sein 1535 erschienener Quintiliankommentar, war ein Versuch, sich
in den humanistischen Arbeitstechniken der Textkritik und -emendation zu
profilieren. Unternehmungen dieser Art zählten zu den Tätigkeiten eines
ambitionierten Gelehrten, und Philandrier folgt in seinem Erstlingswerk dem
üblichen Muster philologischer Textkritik. Er korrigierte ihm zweifelhaft
erscheinende Textstellen und erläuterte die Bedeutung ungewöhnlicher Namen
und Bezeichnungen mithilfe anderer antiker Autoren. Als er dieselbe
Arbeitstechnik einige Jahre später auch auf Vitruvs De architectura anwandte,
hatten sich die Voraussetzungen für seine Vorgehensweise entscheidend
geändert. Durch seine Verantwortlichkeit für die Bauprogramme George
d'Armagnacs und durch seine unter der Führung Sebastiano Serlios in Venedig
und später in Rom vorgenommenen archäologischen und architektonischen
Studien, durch seine inzwischen gewachsene Vertrautheit mit antiken und
zeitgenössischen Autoren sowie durch die Berücksichtigung von Vitruv-
manuskripten schuf er sich eine gegenüber dem Quintiliankommentar
verbesserte Ausgangsposition.
Philandrier beginnt seine Anmerkungen zu Vitruv mit einem im 15. und 16.
Jahrhundert nicht immer unangefochtenen Beweis seiner Zugehörigkeit zur
Gilde der Cicero imitierenden10 Humanisten:
Wir lesen, unbesiegbarster König, daß es eine Zeit gab, als die Menschen zerstreut
und verteilt wie Tiere in Bergen und Wäldern herumschweiften und mit viehischer
Nahrung ihr Leben fristeten. Noch nicht hatten sie, durch den Rat der klugen oder
die Rede wortgewandter Männer eingenommen und aus ihrem wilden und
unzivilisierten Dasein zu unserer menschlichen und bürgerlichen Lebensweise
geführt, sich mit Verschanzungen und Mauern umgeben. Und im Anfang, als sie
dies taten, um sich und die Ihren vor widrigen Stürmen zu schützen und sichere
Zuflucht vor der Sonnenhitze zu haben, da begannen einige, aus Laubwerk
Abdeckungen zu verfertigen, andere begannen, Höhlen zu graben; diejenigen aber,
die mehr Verstand hatten, begannen, nachdem sie Gabelhölzer aufgerichtet und
8 Vgl. J. BURCKHARDT, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860,
S.142-154; E. ZILSEL, Die Entstehung des Geniebegriffes. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der
Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen 1926, bes. S.111-211.
9 Vgl. L. D. REYNOLDS/N. G. WILSON, Scribes and Scholars. A Guide to the Transmission of
Greek and Latin Literature, 2.Aufl., Oxford 1974; R. PFEIFFER, Classical Scholarship from
1300 to 1850, Oxford 1976.
10 Vgl. ZILSEL, Entstehung des Geniebegriffes, S.214-225; REYNOLDS/WILSON, Scribes,
S.147-148; PFEIFFER, Classical Scholarship, S.53-54.