158
KAPITEL XI
necessario, die bei Aristoteles in dieser Form nicht auftaucht und von Thomas
in seinem Kommentar zur Nicomachischen Ethik benutzt wurde.19
Die Bestimmung eines kunstschaffenden Prinzips, das sich nicht im
Hervorgebrachten, sondern im Hervorbringenden befindet, eröffnet
verschiedene kunsttheoretische Möglichkeiten. So harmoniert diese aus Aristo-
teles entwickelte Anschauung mit dem in der Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts
diskutierten Begriff des disegno. Das künstlerische Wirken, so Barbaro, beruhe
auf einem disegno genannten geistigen Konzept (concetto nella mente)20, das
auf verschiedene Art und Weise ausgedrückt werden könne. So argumentiert er
einerseits mit der Naturnachahmung, die darin bestehe, die Materie mittels der
wesenhaften Form (forma) zu gestalten und dabei die Prinzipien der Natur auch
in der Kunst anzuwenden.21 Neben dem aus mehreren klassischen Quellen22
bekannten und in der Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts23 diskutierten Postulat
der künstlerischen Nachahmung, die auf denselben Prinzipien beruht wie die
Schöpfungen der Natur, bestimmt Barbaro die zur Bearbeitung der Materie
notwendige wesenhafte Form auch aus dem der Architektur zugrundeliegenden
Zweck, der, nach dem Urteil des Aristoteles, als ein außerhalb der Kunst
liegendes Prinzip nicht mit dieser identisch ist (s.o.). In der Weiterentwicklung
dieses Prinzips argumentiert Barbaro, daß jede künstlerische Tätigkeit gemäß
Galen auf der Kenntnis dieses Zweckes (fine) beruhe.24 Die hier vermutlich
zugrundeliegenden Ausführungen Galens25 verweisen weiterhin auf die
Notwendigkeit von ratio und definitio für jede Lehre. Diese Auffassung
überträgt Barbaro auf die Kunst, wenn er mit Hinweis auf Galen die
Notwendigkeit betont, den behandelten Gegenstand - in diesem Falle die Kunst
- zu definieren und zu demonstrieren.26 Nach der Definition und Demonstration
erläutert Barbaro die vernünftige Vorstellung, ragione, die als demonstratives
Prinzip eine Sache »bedeutet« (significat).27 Sie existiert als wesenhafte Form
(forma) im Verstand des Architekten und besteht in Vitruvs (1.2.1.) sechs
Grundbegriffen der Architektur, die der Bearbeitung der Materie zugrunde
liegen: ordinatio, dispositio, eurythmia, symmetria, decorum und distributio?*
19 THOMAS AQUINAS, In decem libros ethicorum Aristotelis ad Nichomachum expositio 1116,
Ed. Gillet/Pirotta, Turin 1934, S.372.
20 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.13; zum »disegno« vgl. W. KEMP, »Disegno«. Beiträge zur
Geschichte des Begriffs zwis chen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft
19.1974, S.219-240.
21 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.37.
22 Vgl. z.B. ARISTOTELES, Physica 2.2. (194a) und 2.8. (199a); SENECA, Epistulae 65.3; vgl.
K. FLASCH, Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittelalterliche Philosophie der
Kunst, in: Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus.
Festgabe für Johannes Hirschberger, hrsg. v. K. Flasch, Frankfurt/M. 1965, S.265-306, bes.
S.265-269.
23 Vgl. z.B. LEONARDO DA VINCI, Libro di pittura, Codex Urbinas latinus 1270, fo!.133v (Ed.
Ludwig 411, Ed. McMahon 433) und dens., Codex Atlanticus, fol.l41r (Richter, Par.660);
GIOVANNI PAOLO LOMAZZO, Idea del tempio della pittura, Mailand 1590, S.28-29 (Kap.7);
E. PANOFSKY, »Idea«. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin
1924, S.23-24 und 89-90; R. ASSUNTO, Mimesis, in: Encyclopedia of World Art, Bd.10, New
York/Toronto/London 1965, Sp.92-121, bes. Sp.99-106.
24 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.9.
25 GALEN, Ars medica, Venedig 1544, S.l und 3.
26 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.8; vgl. GALEN, Ars medica, S.l und dens., De historia
philosophica über spurius 3-4, Ed.Kühn, Bd.19, S.234-239.
27 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.11.
28 Ebd., S.4, 7 und 97.
KAPITEL XI
necessario, die bei Aristoteles in dieser Form nicht auftaucht und von Thomas
in seinem Kommentar zur Nicomachischen Ethik benutzt wurde.19
Die Bestimmung eines kunstschaffenden Prinzips, das sich nicht im
Hervorgebrachten, sondern im Hervorbringenden befindet, eröffnet
verschiedene kunsttheoretische Möglichkeiten. So harmoniert diese aus Aristo-
teles entwickelte Anschauung mit dem in der Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts
diskutierten Begriff des disegno. Das künstlerische Wirken, so Barbaro, beruhe
auf einem disegno genannten geistigen Konzept (concetto nella mente)20, das
auf verschiedene Art und Weise ausgedrückt werden könne. So argumentiert er
einerseits mit der Naturnachahmung, die darin bestehe, die Materie mittels der
wesenhaften Form (forma) zu gestalten und dabei die Prinzipien der Natur auch
in der Kunst anzuwenden.21 Neben dem aus mehreren klassischen Quellen22
bekannten und in der Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts23 diskutierten Postulat
der künstlerischen Nachahmung, die auf denselben Prinzipien beruht wie die
Schöpfungen der Natur, bestimmt Barbaro die zur Bearbeitung der Materie
notwendige wesenhafte Form auch aus dem der Architektur zugrundeliegenden
Zweck, der, nach dem Urteil des Aristoteles, als ein außerhalb der Kunst
liegendes Prinzip nicht mit dieser identisch ist (s.o.). In der Weiterentwicklung
dieses Prinzips argumentiert Barbaro, daß jede künstlerische Tätigkeit gemäß
Galen auf der Kenntnis dieses Zweckes (fine) beruhe.24 Die hier vermutlich
zugrundeliegenden Ausführungen Galens25 verweisen weiterhin auf die
Notwendigkeit von ratio und definitio für jede Lehre. Diese Auffassung
überträgt Barbaro auf die Kunst, wenn er mit Hinweis auf Galen die
Notwendigkeit betont, den behandelten Gegenstand - in diesem Falle die Kunst
- zu definieren und zu demonstrieren.26 Nach der Definition und Demonstration
erläutert Barbaro die vernünftige Vorstellung, ragione, die als demonstratives
Prinzip eine Sache »bedeutet« (significat).27 Sie existiert als wesenhafte Form
(forma) im Verstand des Architekten und besteht in Vitruvs (1.2.1.) sechs
Grundbegriffen der Architektur, die der Bearbeitung der Materie zugrunde
liegen: ordinatio, dispositio, eurythmia, symmetria, decorum und distributio?*
19 THOMAS AQUINAS, In decem libros ethicorum Aristotelis ad Nichomachum expositio 1116,
Ed. Gillet/Pirotta, Turin 1934, S.372.
20 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.13; zum »disegno« vgl. W. KEMP, »Disegno«. Beiträge zur
Geschichte des Begriffs zwis chen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft
19.1974, S.219-240.
21 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.37.
22 Vgl. z.B. ARISTOTELES, Physica 2.2. (194a) und 2.8. (199a); SENECA, Epistulae 65.3; vgl.
K. FLASCH, Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittelalterliche Philosophie der
Kunst, in: Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus.
Festgabe für Johannes Hirschberger, hrsg. v. K. Flasch, Frankfurt/M. 1965, S.265-306, bes.
S.265-269.
23 Vgl. z.B. LEONARDO DA VINCI, Libro di pittura, Codex Urbinas latinus 1270, fo!.133v (Ed.
Ludwig 411, Ed. McMahon 433) und dens., Codex Atlanticus, fol.l41r (Richter, Par.660);
GIOVANNI PAOLO LOMAZZO, Idea del tempio della pittura, Mailand 1590, S.28-29 (Kap.7);
E. PANOFSKY, »Idea«. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin
1924, S.23-24 und 89-90; R. ASSUNTO, Mimesis, in: Encyclopedia of World Art, Bd.10, New
York/Toronto/London 1965, Sp.92-121, bes. Sp.99-106.
24 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.9.
25 GALEN, Ars medica, Venedig 1544, S.l und 3.
26 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.8; vgl. GALEN, Ars medica, S.l und dens., De historia
philosophica über spurius 3-4, Ed.Kühn, Bd.19, S.234-239.
27 BARBARO, I dieci libri, 1567, S.11.
28 Ebd., S.4, 7 und 97.