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FRANCESCO GIORGI

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Es gibt weder einen Hinweis darauf, daß Giorgi mit der biblischen Auslegung
des architektonischen Anthropomorphismus an Vitruvs Proportionsfigur
gedacht hat, noch einen Anhaltspunkt dafür, daß jene Figur für ihn das Symbol
eines bestimmten Architekturverständnisses hätte gewesen sein können. Der
Anthropomorphismus ist keineswegs ungewöhnlich und dient als
vergleichendes Mittel, um die Bedeutung von Proportionen an sich überzeugend
darzulegen. Eine architekturtheoretische Auffassung, wie sie bei Vitruv
gegebenenfalls in der geometrischen Symbolik von Kreis und Quadrat
ausgedrückt ist, läßt sich dem Memorandum nicht entnehmen. Die eigentliche
Argumentation Giorgis konzentriert sich vielmehr auf die musikalischen
Harmonien, deren abstrakte Proportionen über den naiven Anthropomorphis-
mus hinausgehen. Mit diesen Harmonien ist Giorgis Architekturverständnis
hinreichend ausgedrückt; einer symbolischen Figur bedurfte es nicht.
3. De harmonia mundi
De harmonia mundi besteht aus drei Gesängen, deren jeweils acht Töne die
Harmonie einer vollendeten Oktave bilden. Die Struktur des gesamten Werkes
reflektiert Giorgis Überzeugung, daß der Kosmos nach den Gesetzen einer
musikalisch ausdrückbaren Harmonie geordnet ist. Da der Mensch als Mikro-
kosmos dieselbe Struktur aufweist, wird sein Aufbau mit demjenigen des
Makrokosmos vergleichbar. Dadurch kann das zentrale Thema Giorgis, der
Mensch als Mikrokosmos und seine Erlösung von der Sünde sowie sein
Aufstieg zur Übereinstimmung mit Gott, in den musikanalogischen Argu-
mentationsrahmen eingearbeitet werden. Die musiktheoretische Grundlage
dieses Rahmens wird dabei nicht nur ausführlich erläutert13, sondern auch bis in
die Details der menschlichen Proportionen hinein verfolgt (s.u.).14 Die
elaborierte Struktur des musikalischen Schemas ergibt sich aus der Auffassung
Giorgis, daß die unzuverlässigen Sinne die intellektuelle Natur Gottes niemals
erreichen können. Daher habe man sich der unsichtbaren Harmonie zwischen
Archetypus und Mensch mittels der verläßlichen Wissenschaften von Physik,
Arithmetik, Astronomie, Geometrie und Musik zu widmen. Denn, so schreibt er
weiter, von den sichtbaren Dingen zu den unsichtbaren in Gott gelange man
durch die Kenntnis der Harmonie; da Mikro- und Makrokosmos durch die
Macht der Zahl mit den überirdischen und unsichtbaren Dingen (also mit Gott,
dem Archetypus und den himmlischen Sphären) verbunden seien, habe man
sich auf deren Harmonien zu konzentrieren.15 In der Darstellung dieser
Harmonien dürfte Giorgis Betonung der musikalisch geordneten Struktur des
Kosmos auf die kulturellen Verhältnisse in Venedig zurückgehen, wo selbst
politische Zusammenhänge nicht selten in musikalischen Metaphern
ausgedrückt wurden und wo seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ein Harmo-
Paolo, scrivendo alli Corinthi: II Tempio di Dio sete voi. II qual mistero ponderando Salomone,
diede le medesime proportioni del tabernacolo mosaico al tempio con tanta celebritä fabricato.
Zit. nach FOSCARI/TAFURI, L'armonia e i conflitti, S.208-209.
13 GIORGI, De harmonia mundi 1.5.1-11., fols.85r[84r]-92r.
14 Ebd., I.6.3., fol.l01r; 3.1.1., fol.2v (vgl. auch Anm.63.).
15 Ebd., prooem.
 
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