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Zöllner, Frank
Vitruvs Proportionsfigur: quellenkrit. Studien zur Kunstliteratur im 15. u. 16. Jh. — Worms: Wernersche Verl.-Ges., 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.73563#0119
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LUCA PACIOLI

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Unbekannten verhält sich dabei die erste Größe zur dritten wie die zweite zur
vierten und die erste zur zweiten wie die dritte zur vierten.32 Die Bestimmung
der gesuchten Quantität folgt also aus dem Umstand, daß sie eine Proportionale
der bereits bekannten Größen ist. Diese vor allem kaufmännisch angewandte
Rechenregel wird auch von Pacioli in seiner Summa als ein proportionales
Verfahren zur Ermittlung von Geld- und Warenwert beschrieben.33 Die
Bedeutung der Dreisatzrechnung für das Verständnis von Proportion und Pro-
portionalität zeigt sich noch bei Cesare Cesariano, der die regola delle tre cose
oder regola maggiore kurzerhand mit der divina proportione gleichsetzt.
Nikolaus von Kues hat in seiner Schrift Idiota de mente argumentiert, daß die
demütige Weisheit des Laien in den Plätzen ruft, also an jenem Ort, an dem
gezählt, gemessen und gewogen wird.34 Hiermit weist der Cusaner auf eine
Würde von Maß, Zahl und Gewicht hin, die im Gegensatz zur nur theoretischen
Weisheit der Bücher steht. Dem praktizierenden Mathematiker und Lehrer
Pacioli stellte sich das umgekehrte Problem, denn durch seine Erörterung der
Proportionen im Kontext der alltäglichen Praxis von Zählen, Messen und
Wiegen hatte er nicht nur auf ihre Bedeutung, sondern auch auf ihre Trivialität
hingewiesen. Er bezieht sich auf diese Trivialität, wenn er die Ignoranz der
zeitgenössischen Handwerker und Architekten gegenüber dem tieferen Sinn von
Proportion und Geometrie beklagt (s.o.). Für Pacioli bestand damit eine Kluft
zwischen der praktischen Anwendung mathematischer Wissenschaften
einerseits und ihrer theoretisch geforderten höheren Bedeutung andererseits.
Die verschiedenen Teile der Divina proportione und besonders die Erörterung
der fünf regelmäßigen Körper Platons sind ein Versuch, diesem Mißstand
abzuhelfen. Im Compendio de divina proportione selbst werden daher die
Polyhedra und ihre komplizierte Konstruktionsmethode erläutert, denn diese
Körper haben insofern einen tieferen Sinn, als sie die elementare Zusam-
mensetzung des Kosmos repräsentieren. Pacioli bezieht sich hierbei auf den
zwischen 1463 und 1469 von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzten und
zuerst 1484 vollständig gedruckten Timaeus Platons.35 Dem Timaeus sowie dem
Kommentar Ficinos konnte er entnehmen, daß der Tetraeder (Pyramide) für das
Feuer, der Hexaeder (Würfel) für die Erde, der Oktaeder für die Luft und der
Ikosaeder für das Wasser steht. Der alle anderen Formen umfassende
Dodekaeder schließlich ist der perfekteste der regelmäßigen Körper, und er
repräsentiert die quinta essentia, die fünfte Substanz, dem der Himmel selbst
sein formales Dasein (lesser formale) verdankt.36 Mit seiner kunsttheoretisch
motivierten Diskussion der fünf regelmäßigen Körper drang Pacioli in eine
damals neue Materie ein, denn die Erörterung dieser Körper fehlte in der

32 Vgl. SMITH, History of Mathematics, Bd.2, S.483-494; R. WITTKOWER, Architectural
Principles, S.96; M. BAXANDALL, Painting and Experience, S.94-95.

33 PACIOLI, Summa, I, fol.69r.

34 NIKOLAUS VON KUES, Idiota de sapientia 1, in: NIKOLAUS VON KUES, Philosophische
Schriften, hrsg. v. L. Gabriel, 3Bde., Wien 1964-1967, Bd.3, S.420-429; vgl. E. CASSIRER,
Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (Studien der Bibliothek Warburg
10), Leipzig/Berlin 1927, S.53-55.

35 PLATON, Timaeus 20-23 (53c-56c); vgl. F. M. CORNFORD, Plato's Cosmology. The
»Timaeus« of Plato Translated with a Running Commentary, London 1937, S.210-224; S. K.
HENINGER Jr., Touches of Sweet Harmony. Pythagorean Cosmology and Renaissance Poetics,
San Marino (Cal.) 1974, S.107-112.

36 PACIOLI, Divina proportione, S.43.
 
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