Dahlmann und die Brüder Grimm. 711
Verſtand viel zu hell und unbeſtechlich, ihr Zuſammenhang mit dem Bürgertum
und mit der dem Liberalismus zuneigenden Wiſſenſchaft viel zu eng. Die An—
hänglichkeit an das Alte iſt bei ihnen nie in eine Myſtik des Gottesgnadentums
ausgeartet, von welcher ſie in Friedrich Wilhelm IV. ein gar zu deutlich reden—
des Beiſpiel vor ſich hatten. Den kurzſichtigen Beſchränkungen, welche ihre Zeit
der perſönlichen Meinungsäußerung auferlegte, ſind ſie nicht bloß fern geſtanden,
ſondern feindlich entgegengetreten. Derſelbe Dahlmann, der gegen die Beteiligten
an der ſogenannten Göttinger Revolution ¶831) keine Begnadigung geübt wiſſen
wollte, erklärte ſich gegen jede Beſchränkung akademiſcher Freiheiten, und, was
ihm viele nicht verzeihen werden, er ſtimmte für Zulaſſung der Juden zum
akademiſchen Lehramt. Wie freiſinnig und weitherzig Jakob Grimm über die
Zulaſſung politiſch verdächtiger Anſichten zur Oeffentlichkeit geurteilt hat, wiſſen.
wir jetzt aufs genaueſte, ſeit Stengel ſeine ohne jede bureaukratiſche Aengſtlichkeit
abgefaßten Berichte über Cenſurangelegenheiten veröffentlicht hat; und in den
Briefen ſeines Bruders nimmt der geiſtreiche Spott über alle möglichen reaktio—
nären Gelüſte einen nicht ganz kleinen Raum ein. An einer Stelle, wo Jakob
von ſeiner Beſchäftigung mit dem Rechte der deutſchen Vorzeit redet, ſetzt er
hinzu: „Schriftſteller, die ſich einem verlaſſenen Felde widmen, pflegen ihm Vor—
liebe zuzuwenden; ich hoffe, wer meine Arbeiten näher kennt, daß er mir keine
Art Geringhaltung des großen Rechts, welches der waltenden Gegenwart über
unſere Sprache, Poeſie, Rechte und Einrichtungen gebührt, nachweiſen könne.
Denn ſelbſt wo wir ſonſt beſſer waren, müſſen wir heute ſo ſein, wie wir ſind.“
Ebenſo hat Wilhelm wohlmeinende Beſtrebungen, die alten Zwangsinnungen
wieder aufleben zu laſſen, als Utopien gekennzeichnet, die, „wenn ſie ſich etwas
ernſtlich herausnehmen wollten, gleich wieder verſchwinden würden“; und Dahl—
mann hat trotz aller Anhänglichkeit an alte Formen ſich ſehr beſtimmt für das
moderne Syſtem der Repräſentativverfaſſung und gegen die von anderer Seite
befürworteten Provinzialſtände erklärt, bei aller Bewunderung des engliſchen
Verfaſſungsweſens und bei der kräftigſten Verfechtung des Zweikammerſyſtems
ſich entſchieden gegen eine preußiſche Pairskammer ausgeſprochen, für welche
man die Pairſchaft, die in England uraltes Gut iſt, erſt hätte aus dem Boden
ſtampfen müſſen.
Es iſt eine gemäßigte, mittlere Art der politiſchen Anſchauung, welche wir
in allen dieſen Aeußerungen gewahren, es iſt jene in den unnatürlich verdrehten
und vergifteten, unwahren Parteiverhältniſſen des heutigen Deutſchlands leider
ſchwer findbare „Mitte des Lebens, des Herzens, nicht die künſtlich gemachte,
die Lüge mit Lüge abwägt. Die innere Mitte iſt warm, die Extreme ſind er—
kältet, um ſie webt ſchnell die luftigſte Theorie, während jener Schoße die goldene
Praxis entſpringt.“ Dieſe mittlere Anſicht der Dinge, welche Jakob Grimm
rühmt, iſt das Reſultat einer ruhigen, pietätvollen, aber vorurteilsfreien Ab—
wägung. Sie iſt verbunden mit einer andern Tugend, die aus dem Inventar
ſo gut wie aller unſerer modernen Parteien geſtrichen zu ſein ſcheint, mit der
Billigkeit und Gerechtigkeit gegen Andersdenkende. Dieſe hat einem Dahlmann
nicht gefehlt und iſt ihm in ſeinem thatenvollen Leben, das ſo gebieteriſch be—
ſtimmte Parteinahme verlangte, nicht verloren gegangen. Jakob Grimm aber,
der über die religiöſen Meinungen das ſchöne Wort der Toleranz hatte: „wenn
Glaubensfähigkeit eine Leiter iſt, auf deren Sproſſen empor und hinunter, zum
Verſtand viel zu hell und unbeſtechlich, ihr Zuſammenhang mit dem Bürgertum
und mit der dem Liberalismus zuneigenden Wiſſenſchaft viel zu eng. Die An—
hänglichkeit an das Alte iſt bei ihnen nie in eine Myſtik des Gottesgnadentums
ausgeartet, von welcher ſie in Friedrich Wilhelm IV. ein gar zu deutlich reden—
des Beiſpiel vor ſich hatten. Den kurzſichtigen Beſchränkungen, welche ihre Zeit
der perſönlichen Meinungsäußerung auferlegte, ſind ſie nicht bloß fern geſtanden,
ſondern feindlich entgegengetreten. Derſelbe Dahlmann, der gegen die Beteiligten
an der ſogenannten Göttinger Revolution ¶831) keine Begnadigung geübt wiſſen
wollte, erklärte ſich gegen jede Beſchränkung akademiſcher Freiheiten, und, was
ihm viele nicht verzeihen werden, er ſtimmte für Zulaſſung der Juden zum
akademiſchen Lehramt. Wie freiſinnig und weitherzig Jakob Grimm über die
Zulaſſung politiſch verdächtiger Anſichten zur Oeffentlichkeit geurteilt hat, wiſſen.
wir jetzt aufs genaueſte, ſeit Stengel ſeine ohne jede bureaukratiſche Aengſtlichkeit
abgefaßten Berichte über Cenſurangelegenheiten veröffentlicht hat; und in den
Briefen ſeines Bruders nimmt der geiſtreiche Spott über alle möglichen reaktio—
nären Gelüſte einen nicht ganz kleinen Raum ein. An einer Stelle, wo Jakob
von ſeiner Beſchäftigung mit dem Rechte der deutſchen Vorzeit redet, ſetzt er
hinzu: „Schriftſteller, die ſich einem verlaſſenen Felde widmen, pflegen ihm Vor—
liebe zuzuwenden; ich hoffe, wer meine Arbeiten näher kennt, daß er mir keine
Art Geringhaltung des großen Rechts, welches der waltenden Gegenwart über
unſere Sprache, Poeſie, Rechte und Einrichtungen gebührt, nachweiſen könne.
Denn ſelbſt wo wir ſonſt beſſer waren, müſſen wir heute ſo ſein, wie wir ſind.“
Ebenſo hat Wilhelm wohlmeinende Beſtrebungen, die alten Zwangsinnungen
wieder aufleben zu laſſen, als Utopien gekennzeichnet, die, „wenn ſie ſich etwas
ernſtlich herausnehmen wollten, gleich wieder verſchwinden würden“; und Dahl—
mann hat trotz aller Anhänglichkeit an alte Formen ſich ſehr beſtimmt für das
moderne Syſtem der Repräſentativverfaſſung und gegen die von anderer Seite
befürworteten Provinzialſtände erklärt, bei aller Bewunderung des engliſchen
Verfaſſungsweſens und bei der kräftigſten Verfechtung des Zweikammerſyſtems
ſich entſchieden gegen eine preußiſche Pairskammer ausgeſprochen, für welche
man die Pairſchaft, die in England uraltes Gut iſt, erſt hätte aus dem Boden
ſtampfen müſſen.
Es iſt eine gemäßigte, mittlere Art der politiſchen Anſchauung, welche wir
in allen dieſen Aeußerungen gewahren, es iſt jene in den unnatürlich verdrehten
und vergifteten, unwahren Parteiverhältniſſen des heutigen Deutſchlands leider
ſchwer findbare „Mitte des Lebens, des Herzens, nicht die künſtlich gemachte,
die Lüge mit Lüge abwägt. Die innere Mitte iſt warm, die Extreme ſind er—
kältet, um ſie webt ſchnell die luftigſte Theorie, während jener Schoße die goldene
Praxis entſpringt.“ Dieſe mittlere Anſicht der Dinge, welche Jakob Grimm
rühmt, iſt das Reſultat einer ruhigen, pietätvollen, aber vorurteilsfreien Ab—
wägung. Sie iſt verbunden mit einer andern Tugend, die aus dem Inventar
ſo gut wie aller unſerer modernen Parteien geſtrichen zu ſein ſcheint, mit der
Billigkeit und Gerechtigkeit gegen Andersdenkende. Dieſe hat einem Dahlmann
nicht gefehlt und iſt ihm in ſeinem thatenvollen Leben, das ſo gebieteriſch be—
ſtimmte Parteinahme verlangte, nicht verloren gegangen. Jakob Grimm aber,
der über die religiöſen Meinungen das ſchöne Wort der Toleranz hatte: „wenn
Glaubensfähigkeit eine Leiter iſt, auf deren Sproſſen empor und hinunter, zum