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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 37-39.1919/​21

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Nr. 3 (1920/21)
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König: Die neue Kunst, [1]: ein Beitrag zum Verständnis moderner Kunstbestrebungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.22108#0123
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jachsten Grundformen des Kegels und
des Kubus zurück, und übersetzten diese
Linien in alle ihre Bilder, wobei sie in
der Buntheit der Farben nicht weniger
revolutionär vorgingen. Niemand nahm
diese Kunstformen. ernst, und bald zier-
ten die Bilder dieser Unglücklichen nur
noch die Witzblätter. Sie wurden der
Spott der Gasse und als eine Schar un-
heilbar verrückter, vollständig degene-
rierter Menschen bezeichnet. Wohl war
man in den einsichtsvollen Kreisen der
Kunst über die wirkliche Dekadenz des
letzten halben Jahrhunderts sich längst
klar, aber man. wußte tatsächlich nicht, ob
man es in diesen Produkten zu tun hatte
mit dem letzten Aufflackern einer Nieder-
gangskultur, oder mit dem unbeholfenen
künstlerischen Versuch eines vollständig
Neuen. Jedenfalls hatte man es mit
b-eidem zu tun. Wenn es wahr ist, daß
alle Kunstformen immer der Ausdruck
des Seelenlebens' einer Zeit find, dann
gilt der Beginn des 20. Jahrhunderts
den besten Beweis dafür. Da war 'der
Mensch zum bloßen Instrument gewor-
den, ein Werkzeug seines eigenen Wer-
kes, ein Diener der Maschine. Sie hat
ihm die Seele genommen. Da kam der
Kriege— Er schüttelte die Zeit mit Ent-
setzen und Todesgrauen. Niemals war
der Welt so bange — und die Not schreit
auf; die ganze Zeit wird ein einziger
Notschrei, und die Kunst schreit mit —
daß der Mensch sich wiederfinde! Sie
schreit nach Geist und Seele. Der Ma-
terialismus erleidet die erste Nieder-
lage. Ein Durchbruchsversuch zur Wahr-
heit hat Erfolg, wenn auch „hinweg über
alle Drahtverhaue der Naturgesetzlich-
keit." Der Fanatismus eines neuen
Wollens ergreift eine Provinz nach der
anderen auf dem Gebiet der Kunst —•
und es ist bereits zweifellos, daß im Ge-
samtbereich des künstlerischen Ausfallens,
eine jener Krisen sich vorbereitet, die
notwendig scheint, damit unser Blick sich
nicht „in einseitigem Starren ve"
krampfe." Expressionismus nennen sie
die, Bewegung, zu deutsch: Ausdrucks-
kunst. Wenn dieses Wort heutzutage
gleichbedeutend ist mit Bolschewismus,
so trägt die Schuld daran der Um-
stand, daß alles, was sich heute neue Kunst
nennt, unter den Sammelnamen Er-


pressionismus geworfen wurde. Alle
möglichen Elemente haben sich unter, seine
Fittiche gesammelt, und unter dem Neuen,
Unerhörten wird es nicht nur dem Laien
schwer, das Echte vom Falschen zu unter-
scheiden. Man -glaubt sich versetzt in den
Zustand des 'Urmenschen. Wie von
Wilden gemalt grinsen uns ungebärtig
und berserkerhaft mögliche u. unmögliche
Gebilde entgegen. Daher auch das ab-
fällige Urteil, man wolle nur um jeden
Preis auffallen, verblüffen, Aergernis
gäben; sie seien nicht einmal Narren,
diese Kunstjünger, sondern Schwindler;
ein ehrlicher Maler, wenn er schon nicht
malen könne, mache wenigstens kein
Evangelium daraus und schreibe sein
Hexeneinmaleins nicht auch andern vor.
Es sagt jemand: „Ich hatte mich, weiß
Gott, allmählich schon an alles gewöhnt;
ich ließe mir alles gefallen — aber
Picasso! nein, das ist zu arg! Es ging,
solang es noch Bilder waren, von denen
sich doch allenfalls vermuten ließ, daß es
Bilder sein könnten. Bei allen Extremen
und Exzessen künstlerischer Art war doch
noch irgend ein gemeinsamer Anfang da.
Hier aber, in diesen Bildern ist davon
nichts mehr da — es scheint die ganze Ma-
lerei ins Bodenlose zu stürzen: nichts
mehr von all dem, was sie bisher Kunst
zu nennen pflegten; jedes Merkmal,
jeder Maßstab, nach welchem wir uns
sonst orientieren, ist verschwunden." Es
find harte Urteile: aber wer möchte sie
verargen? Und doch wieder, wenn die
Expressionisten Ungeheuerliches zeichnen
und malen, wenn sie im Nebel reden, wer
will es auch ihnen verargen? Sie können
sich auf unsere Zeit, berufen, deren Men-
schen sich gegenseitig nicht mehr verstehen.
Immer wenn die Menschheit an einem
Wendepunkt stand, begegneten sich auch
in der Kunst tiefsinnige Abstraktionen
und rätselhafte Visionen. Man mag
dann dieselben deuten als primitives
Lallen oder als raffinierte Berechnung
oder als krankhafte Erscheinungen einerp
dekadenten Hilflosigkeit, oder als das
„Wiederaufflammen einer Mutterkraft
aus dem Chaos", jedenfalls kommen wir
nicht hinweg über diese Erscheinung im
Leben der Kunst mit einem bloßen
Lächeln. Glaubte man anfangs, es
handle sich nur um Einzelerscheinungen,
 
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