162
Ein Augenblick Allwissenheit.
zur Sommersonnenwende des kommenden Jahres. Bis dahin
besinne Dich, was für eine Frage Du beantwortet haben willst I
past Du die Frage genau in Worte gefaßt, so entfaltest Du um
die Mitternacht zur Sonnenwende, während Du allein in Deinem
Pause bist, die Rolle und schreibst die Frage darauf nieder,
pieraus rollst Du sie wieder zusammen, zählst langsam bis drei
und entfaltest sie wieder. Dann wirst Du Deine Frage beant-
wortet finden, und wäre sie noch so schwierig. Aber
merke Dir: nur eine einzige Frage wird Dir die
Rolle beantworten, und wenn Du die Antwort
gelesen hast, wird sie in Staub zerfallen. Für
einen Augenblick also wirst Du innerhalb der
Schranken, die dem Menschengeiste immer gesetzt
sind, wenigstens nach einer Richtung hin, die Du
Dir ja eben wählen kannst, allwissend sein. Nutze
diesen Augenblick I Und nun lebe wohl!"
Dichter Nebel umhüllte plötzlich die Augen
Almansors; bald daraus verschwand der Nebel
wieder, und als er verschwunden, war die Fee
nicht mehr sichtbar. Almansor wurde durch die
pergamentrolle, die er in der pand hielt, da-
rüber belehrt, daß die Vorgänge der letzten Stun-
den kein Traum, sondern Wirklichkeit gewesen
waren.
Die Reise nach Teheran gab er aus. Nach
gelehrten Schriften hatte er jetzt kein verlangen.
Er kehrte in Eile nach seiner Besitzung bei Bagdad
zurück und kam noch vor Sonnenuntergang dort
wieder an. Drei volle Vierteljahre hatte er nun
Zeit, sich zu überlegen, welche Frage er tun sollte,
und alle Tage dachte er darüber nach. Wie lange
lebe ich noch? Wie lange wird die Erde noch be-
stehen? Ist alles, was geschieht, unvermeidlich und
notwendig? Gehört der Zeitverlaus zum Wesen
der Welt oder ist er nur meine Vorstellung? Wie
kann mein Wille, der doch geistiger Art ist, be-
wirken, daß ich meinen Arm ausstrecke, der doch
materieller Art ist? Diese Fragen und viele andere
ähnliche gingen ihm täglich durch den Aops, und
bald hielt er diese, bald jene für die wichtigste —
für die, welche vor anderen es wert sei, daß er
ihre Beantwortung durch die geheimnisvolle Rolle
nachsuche.
Die Zeit enteilte, und ehe noch Almansor sich
für eine bestimmte Frage entschieden hatte, ging
der letzte Abend von der ihm gesetzten Frist zu
Ende. Mit steigender Erregung verfolgte Almansor,
der seinen Sklaven für zwei Tage beurlaubt hatte,
aus einer kunstvollen Uhr den flüchtigen Laus der Zeiger. Nur
noch wenige Minuten waren bis zur Mitternachtsstunde zu-
rückzulegen. Eben wollte Almansor sich wegen seiner Frage
entschließen und sich zum Schreiben bereit machen — da entdeckte
er zu seinem Ärger, daß von den beiden Gänsekielfedern, die
vor ihm aus seinem Schreibtisch lagen, die eine fehlte, und
zwar die bessere, die er bei dein bevorstehenden Akt zu benützen
gedachte, pastig suchte er nach ihr überall da, wo er sie zu
finden hoffte — aber er fand sie nicht. Sein Ärger ging
in pohn und Grimm gegen sein Schicksal über, und als
nun die Mitternachtsstunde schlug, ergriff er die vor ihm
liegende schlechtere Schreibseder, entrollte das Pergament und
schrieb die Frage nieder: „Wo ist meine gute Schreibfeder ge-
blieben?" Dann rollte er das Pergament zusammen, zählte bis
drei, entfaltete es wieder, und las nun die Antwort: „Du hast
die Schreibseder hinter Deinen: rechten Ohr stecken!" Richtig,
da steckte sic wirklich — wie er sich durch einen Griff nach dein
Ohr überzeugte. Die gestellte Frage war beantwortet, und sofort
zerfiel das Pergament in Staub. Almansor hörte aus einer Ecke
seines Zimmers einen tiefen Seufzer, aus einer anderen ein
böses Lachen; dann war alles still. Der ihm geschenkte Augen-
blick von Allwissenheit war vorüber, nnd — seine Schreibseder
war wieder da! in. Schulte.
Ein Augenblick Allwissenheit.
zur Sommersonnenwende des kommenden Jahres. Bis dahin
besinne Dich, was für eine Frage Du beantwortet haben willst I
past Du die Frage genau in Worte gefaßt, so entfaltest Du um
die Mitternacht zur Sonnenwende, während Du allein in Deinem
Pause bist, die Rolle und schreibst die Frage darauf nieder,
pieraus rollst Du sie wieder zusammen, zählst langsam bis drei
und entfaltest sie wieder. Dann wirst Du Deine Frage beant-
wortet finden, und wäre sie noch so schwierig. Aber
merke Dir: nur eine einzige Frage wird Dir die
Rolle beantworten, und wenn Du die Antwort
gelesen hast, wird sie in Staub zerfallen. Für
einen Augenblick also wirst Du innerhalb der
Schranken, die dem Menschengeiste immer gesetzt
sind, wenigstens nach einer Richtung hin, die Du
Dir ja eben wählen kannst, allwissend sein. Nutze
diesen Augenblick I Und nun lebe wohl!"
Dichter Nebel umhüllte plötzlich die Augen
Almansors; bald daraus verschwand der Nebel
wieder, und als er verschwunden, war die Fee
nicht mehr sichtbar. Almansor wurde durch die
pergamentrolle, die er in der pand hielt, da-
rüber belehrt, daß die Vorgänge der letzten Stun-
den kein Traum, sondern Wirklichkeit gewesen
waren.
Die Reise nach Teheran gab er aus. Nach
gelehrten Schriften hatte er jetzt kein verlangen.
Er kehrte in Eile nach seiner Besitzung bei Bagdad
zurück und kam noch vor Sonnenuntergang dort
wieder an. Drei volle Vierteljahre hatte er nun
Zeit, sich zu überlegen, welche Frage er tun sollte,
und alle Tage dachte er darüber nach. Wie lange
lebe ich noch? Wie lange wird die Erde noch be-
stehen? Ist alles, was geschieht, unvermeidlich und
notwendig? Gehört der Zeitverlaus zum Wesen
der Welt oder ist er nur meine Vorstellung? Wie
kann mein Wille, der doch geistiger Art ist, be-
wirken, daß ich meinen Arm ausstrecke, der doch
materieller Art ist? Diese Fragen und viele andere
ähnliche gingen ihm täglich durch den Aops, und
bald hielt er diese, bald jene für die wichtigste —
für die, welche vor anderen es wert sei, daß er
ihre Beantwortung durch die geheimnisvolle Rolle
nachsuche.
Die Zeit enteilte, und ehe noch Almansor sich
für eine bestimmte Frage entschieden hatte, ging
der letzte Abend von der ihm gesetzten Frist zu
Ende. Mit steigender Erregung verfolgte Almansor,
der seinen Sklaven für zwei Tage beurlaubt hatte,
aus einer kunstvollen Uhr den flüchtigen Laus der Zeiger. Nur
noch wenige Minuten waren bis zur Mitternachtsstunde zu-
rückzulegen. Eben wollte Almansor sich wegen seiner Frage
entschließen und sich zum Schreiben bereit machen — da entdeckte
er zu seinem Ärger, daß von den beiden Gänsekielfedern, die
vor ihm aus seinem Schreibtisch lagen, die eine fehlte, und
zwar die bessere, die er bei dein bevorstehenden Akt zu benützen
gedachte, pastig suchte er nach ihr überall da, wo er sie zu
finden hoffte — aber er fand sie nicht. Sein Ärger ging
in pohn und Grimm gegen sein Schicksal über, und als
nun die Mitternachtsstunde schlug, ergriff er die vor ihm
liegende schlechtere Schreibseder, entrollte das Pergament und
schrieb die Frage nieder: „Wo ist meine gute Schreibfeder ge-
blieben?" Dann rollte er das Pergament zusammen, zählte bis
drei, entfaltete es wieder, und las nun die Antwort: „Du hast
die Schreibseder hinter Deinen: rechten Ohr stecken!" Richtig,
da steckte sic wirklich — wie er sich durch einen Griff nach dein
Ohr überzeugte. Die gestellte Frage war beantwortet, und sofort
zerfiel das Pergament in Staub. Almansor hörte aus einer Ecke
seines Zimmers einen tiefen Seufzer, aus einer anderen ein
böses Lachen; dann war alles still. Der ihm geschenkte Augen-
blick von Allwissenheit war vorüber, nnd — seine Schreibseder
war wieder da! in. Schulte.
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Ein Augenblick Allwissenheit"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1905
Entstehungsdatum (normiert)
1900 - 1910
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 122.1905, Nr. 3114, S. 162
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg