D i e Glatze
Von Hans Reimann
Mit Recht hatte Studienrat pfen-
nigwurzel die einträglichsten Jahre
seines wertvollen Lebens der Durch-
roentgung des Problems, wie der
Storch lenkbarzu machensei, obgewid-
>net — freilich ohne der Gcschlechts-
bestimmung auch nur die kärglichste
Handvoll Neuland abgerungen zu
haben. Alles blieb beim Altgewohnten,
und wenn der erwartete Bub kein Mädel war, entpuppte er sich
als Zwilling, und wenn der stolzgeschwellte Papa auf einen
männlichen Sprossen getippt hatte, war Hundert gegen Null zu
wetten, daß Freund Adebar eine Stammhalterin herbeischlcppte.
Nachdem pfcnnigwurzel sieben Töchter in die Welt gesetzt hatte,
die ausnahmslos als Iungens geplant waren, begrub er sein
System und pullte ein neues Steckenpferd auf: das Rätsel der
Glatze.
3u diesem Behuf studierte er Flora und Fauna der Kopfhaut
und legte sich binnen kurzem ein teils physiologisches, teils psycho-
technischesWissen zu.Nachdem
er sich zunächst eingehend in die
der Kopfhaut eingebetteten
Haarzwiebeln versenkt hatte,
analysierte er den Begriff
„Glatze" und konstatierte nicht
ohne Genugtuung, daß jegliche
wie immer geartete Glatze
nichts anderes ist denn die
Folgeerscheinung irgendetwes-
sen. Damit war die zu erfor-
schende Theorie richtunggebend
beeinflußt,- wozu bemerkt sei,
daß „richtunggebend" cinwak-
keres Wort darstellen tut. „Beinhalten" ist ebenfalls nicht von
Pappe/ leider habe ich momentan keine Verwendung dafür,-
vielleicht eppcs später.
Pfennigwurzel gedieh zu folgenden Resultaten: Glatzen sind
keineswegs gottgewollt, sondern Folgeerscheinungen der Kultur.
Sie geschehen durch unermüdlichen Lebenswandel oder ander-
weitige Demoralisation. Oder sie geschehen durch Philosophie
und berufsmäßige Grübelung oder aber drittens durch Sorgen
und materielle Nöte nebst dauernd gestörter Nachtruhe. Vier-
tens mangelnde Körperpflege in Verbindung mit Ungeziefer
oder ungezieferhaften Lebewesen. Fünftens Nervenschock, leben-
bedräuende Erkältung, überstarker Blutdruck, gewerbsmäßiges
Tragen uon steifen Hüten und sonstige Gebresten.
bim der Glatze auf den abstrakten Leib zu rücken, empfahl
sich gebieterisch, die typischen Glatziers ausfindig zu machen.
Pfcnnigwurzel eruierte als solche: Posaunisten, Trompetenbläser,
Majore, Komiker, Kellner,Säuglinge,Oberförster und Kapuziner.
Auch bei Trambahnschaffnern, welche gemeinhin durch Auf-
habung von Dienstmützen der auf Beglatzung gerichteten Kon-
trolle entzogen zu sein pflegen, herrschte, wie psennigwurzel
eruierte, unter den diesbezüglichen Haarzwiebeln die Neigung,
ehebaldigst mit Tod abzugehen.
Die logische Linie, die vom Mönch über den Kellner zum
Posaunenbläser geführt hätte, blieb dem Forschcraugc des Stu-
dienrats verborgen. Was Wunder, daß er dem heiklen Thema
vom entgegengesetzten Ende beizukommcn trachtete und die Frage
aufrollte: wer zeichnet sich durch üppigen Schopf aus.
Die nach mehrjährigem Studium erhamstcrte Wissenschaft,
daß Friseure, Gottesgelahrte evangelischer Observanz, Kino-
schauspieler, Feuerwehrleute, Violinisten, Neger und Maurer-
poliere von kerngesundem Haarwuchs geradezu triefen: diese
Wissenschaft brachte den Gelehrten der Entproblematisierung
keinen Zentimeter näher.
Die Glatze blieb ihm ein Rebus. Bis er psychotechnik in
sich schäumen fühlte, bind unter Hintansetzung kleinlicher Be-
denken auf den wehrlosen Leib beziehungsweise Schädel zu
rücken beschloß.
Anitzo aber inengte sich des Himmels persönlicher Finger in
den historischen Verlauf der Begebenheiten.
Der erste Mensch nämlich, der vom Studienrat zwecks sach-
dienlicher Auskunfterteilung beansprucht wurde, war Adolf
Sternbeiß i. Fa. Sternbeiß & Tand, Erzeuger von Buscnwasser
und Haarwuchsbalsam.
Einen Busen besaß er zwar, der Herr Sternbeiß. Doch von
Haarwuchs war weit und breit nicht das mindeste zu gespürcn.
Schauplatz: die große Pause nach dem dritten Akt von Schillers
nationalem Drama „Wilhelm Teil". 2n der großen Pause. Nach
dem dritten Akt von „Wilhelm
Teil". Ausgerechnet.
Sternbeiß saß tu der 16.
parkettreihe und hatte infolge
Waltens einer unberufen höhe-
ren Vorsehung den unmittel-
bar vor pfennigwurzel gelege-
ncir Platz inne.
Plötzlich beugte sich der aufs
Ganze gerichtete Gelehrte zu
Sternbeiß vor und fragte mit
höflichst zu Boden gesenkter
Stimme: „Verzeihung, mein
Herr, warum und inwiefern
nennen Sic eine Glatze Ihr Eigen?"
Sternbeiß wurde rot wie ein Vergißmeinnicht, fühlte sich als
Zielscheibe eines albernen Spaßes und schnauzte mit verhalte-
ner Wut: „Das geht Sie einen Dreck an!"
pfennigwurzel, äußerst objektiv gestimmt, erwiderte, daß er
die Beglatztheit an der Basis zu packen gewillt sei.
Sternbeiß gab zurück, daß er verdammt wenig Lust verspüre,
sich weiterhin frozzeln zu lassen.
pfennigwurzel beteuerte in gedrechselten Worten, ein Mit-
glied des Klubs absolut ernst veranlagter Zeitgenossen zu sein.
Das Gespräch endete mit partieller Ohrbefeigung. Gänse-
hautüberströmt brach pfennigwurzel zusammen.
Und, hoppla, was niemand vermutet: anstatt die angeschnit-
tene Glahcntheorie quasi bis zum
Siedepunkt quasi auszubaden,
ward Studienrat pfennigwurzel
zum ärgsten Verächter Schillers.
Er setzte sich hin auf seine zwie-
spältige Glatze und schrieb ein
wütendes Buch über die Minder-
wertigkeit des Dramas „Wilhelm
Teil". Dann raufte er sich die
Haare aus, ließ sich mumifizieren
und vermachte sich dem naturnot-
wendigen Museum.
93
Von Hans Reimann
Mit Recht hatte Studienrat pfen-
nigwurzel die einträglichsten Jahre
seines wertvollen Lebens der Durch-
roentgung des Problems, wie der
Storch lenkbarzu machensei, obgewid-
>net — freilich ohne der Gcschlechts-
bestimmung auch nur die kärglichste
Handvoll Neuland abgerungen zu
haben. Alles blieb beim Altgewohnten,
und wenn der erwartete Bub kein Mädel war, entpuppte er sich
als Zwilling, und wenn der stolzgeschwellte Papa auf einen
männlichen Sprossen getippt hatte, war Hundert gegen Null zu
wetten, daß Freund Adebar eine Stammhalterin herbeischlcppte.
Nachdem pfcnnigwurzel sieben Töchter in die Welt gesetzt hatte,
die ausnahmslos als Iungens geplant waren, begrub er sein
System und pullte ein neues Steckenpferd auf: das Rätsel der
Glatze.
3u diesem Behuf studierte er Flora und Fauna der Kopfhaut
und legte sich binnen kurzem ein teils physiologisches, teils psycho-
technischesWissen zu.Nachdem
er sich zunächst eingehend in die
der Kopfhaut eingebetteten
Haarzwiebeln versenkt hatte,
analysierte er den Begriff
„Glatze" und konstatierte nicht
ohne Genugtuung, daß jegliche
wie immer geartete Glatze
nichts anderes ist denn die
Folgeerscheinung irgendetwes-
sen. Damit war die zu erfor-
schende Theorie richtunggebend
beeinflußt,- wozu bemerkt sei,
daß „richtunggebend" cinwak-
keres Wort darstellen tut. „Beinhalten" ist ebenfalls nicht von
Pappe/ leider habe ich momentan keine Verwendung dafür,-
vielleicht eppcs später.
Pfennigwurzel gedieh zu folgenden Resultaten: Glatzen sind
keineswegs gottgewollt, sondern Folgeerscheinungen der Kultur.
Sie geschehen durch unermüdlichen Lebenswandel oder ander-
weitige Demoralisation. Oder sie geschehen durch Philosophie
und berufsmäßige Grübelung oder aber drittens durch Sorgen
und materielle Nöte nebst dauernd gestörter Nachtruhe. Vier-
tens mangelnde Körperpflege in Verbindung mit Ungeziefer
oder ungezieferhaften Lebewesen. Fünftens Nervenschock, leben-
bedräuende Erkältung, überstarker Blutdruck, gewerbsmäßiges
Tragen uon steifen Hüten und sonstige Gebresten.
bim der Glatze auf den abstrakten Leib zu rücken, empfahl
sich gebieterisch, die typischen Glatziers ausfindig zu machen.
Pfcnnigwurzel eruierte als solche: Posaunisten, Trompetenbläser,
Majore, Komiker, Kellner,Säuglinge,Oberförster und Kapuziner.
Auch bei Trambahnschaffnern, welche gemeinhin durch Auf-
habung von Dienstmützen der auf Beglatzung gerichteten Kon-
trolle entzogen zu sein pflegen, herrschte, wie psennigwurzel
eruierte, unter den diesbezüglichen Haarzwiebeln die Neigung,
ehebaldigst mit Tod abzugehen.
Die logische Linie, die vom Mönch über den Kellner zum
Posaunenbläser geführt hätte, blieb dem Forschcraugc des Stu-
dienrats verborgen. Was Wunder, daß er dem heiklen Thema
vom entgegengesetzten Ende beizukommcn trachtete und die Frage
aufrollte: wer zeichnet sich durch üppigen Schopf aus.
Die nach mehrjährigem Studium erhamstcrte Wissenschaft,
daß Friseure, Gottesgelahrte evangelischer Observanz, Kino-
schauspieler, Feuerwehrleute, Violinisten, Neger und Maurer-
poliere von kerngesundem Haarwuchs geradezu triefen: diese
Wissenschaft brachte den Gelehrten der Entproblematisierung
keinen Zentimeter näher.
Die Glatze blieb ihm ein Rebus. Bis er psychotechnik in
sich schäumen fühlte, bind unter Hintansetzung kleinlicher Be-
denken auf den wehrlosen Leib beziehungsweise Schädel zu
rücken beschloß.
Anitzo aber inengte sich des Himmels persönlicher Finger in
den historischen Verlauf der Begebenheiten.
Der erste Mensch nämlich, der vom Studienrat zwecks sach-
dienlicher Auskunfterteilung beansprucht wurde, war Adolf
Sternbeiß i. Fa. Sternbeiß & Tand, Erzeuger von Buscnwasser
und Haarwuchsbalsam.
Einen Busen besaß er zwar, der Herr Sternbeiß. Doch von
Haarwuchs war weit und breit nicht das mindeste zu gespürcn.
Schauplatz: die große Pause nach dem dritten Akt von Schillers
nationalem Drama „Wilhelm Teil". 2n der großen Pause. Nach
dem dritten Akt von „Wilhelm
Teil". Ausgerechnet.
Sternbeiß saß tu der 16.
parkettreihe und hatte infolge
Waltens einer unberufen höhe-
ren Vorsehung den unmittel-
bar vor pfennigwurzel gelege-
ncir Platz inne.
Plötzlich beugte sich der aufs
Ganze gerichtete Gelehrte zu
Sternbeiß vor und fragte mit
höflichst zu Boden gesenkter
Stimme: „Verzeihung, mein
Herr, warum und inwiefern
nennen Sic eine Glatze Ihr Eigen?"
Sternbeiß wurde rot wie ein Vergißmeinnicht, fühlte sich als
Zielscheibe eines albernen Spaßes und schnauzte mit verhalte-
ner Wut: „Das geht Sie einen Dreck an!"
pfennigwurzel, äußerst objektiv gestimmt, erwiderte, daß er
die Beglatztheit an der Basis zu packen gewillt sei.
Sternbeiß gab zurück, daß er verdammt wenig Lust verspüre,
sich weiterhin frozzeln zu lassen.
pfennigwurzel beteuerte in gedrechselten Worten, ein Mit-
glied des Klubs absolut ernst veranlagter Zeitgenossen zu sein.
Das Gespräch endete mit partieller Ohrbefeigung. Gänse-
hautüberströmt brach pfennigwurzel zusammen.
Und, hoppla, was niemand vermutet: anstatt die angeschnit-
tene Glahcntheorie quasi bis zum
Siedepunkt quasi auszubaden,
ward Studienrat pfennigwurzel
zum ärgsten Verächter Schillers.
Er setzte sich hin auf seine zwie-
spältige Glatze und schrieb ein
wütendes Buch über die Minder-
wertigkeit des Dramas „Wilhelm
Teil". Dann raufte er sich die
Haare aus, ließ sich mumifizieren
und vermachte sich dem naturnot-
wendigen Museum.
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Die Glatze"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsdatum
um 1924
Entstehungsdatum (normiert)
1919 - 1929
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 160.1924, Nr. 4102, S. 93
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg