o
Von Ralph Lrban
Marga fuhr ganz allein mit dem Wagen ihres Vaters. Der mochte
dies zwar nicht gerne, aber da ausgewachsene Töchter ihren Willen durch-
zusetzen pflegen, kümmerte sie sich nicht viel um das leise väterliche Knur-
ren. Außerdem besaß sie seit kurzer Zeit den Führerschein und benützte
daher jede Gelegenheit, um ihre Fahrkunst zu vervollkommnen. Leute
hatte sie eine Freundin besucht, die in einem Dorf ihr Landjahr machte.
Nun befand sich Marga auf der Rückfahrt in die Stadt.
Die Nebenstraße, die das Dorf mit der Lauptverkehrslinie ver-
band, war schmal und kurvenreich und wurde auch nur selten von
Kraftwagen benutzt. Eben fuhr Marga mit mäßiger Geschwindigkeit
in eine Kurve ein, als sie mitten auf der Straße knapp vor sich einen
Mann erblickte, der sich in gleicher Richtung bewegte. Die Bremsen
kreischten, das Boschhorn heulte. Der Mann sprang mit beiden Beinen
zugleich hoch und schnellte mit einem wüsten Satz an den Straßenrand.
„Idiot!" rief Marga und deutete gegen die Stirn. Diese Anart
hatte sie von einem Vetter gelernt, der alles, was ihm störend in den
Weg kam, mit erlesenen Kraftausdrücken zu belegen Pflegte, sobald er
am Steuer saß. — Marga sah flüchtig in ein wütendes braunes Männer-
gesicht, trat kräftig auf den Gashebel und brauste lachend davon.
Eine Minute später hatte sie den Zwischenfall vergeffen.
Anders der Fußgänger. Nach dem Schreck ärgerte er sich noch eine
Weile grün,aberbald daraufmarsckierte
er mit einem kleinen Lächeln auf den
Lippen munter weiter. Er befand sich
auf einer Fußwanderung und hatte
demgemäß Zeit, sich allerhand Bilder
auszumalen. And jenes, das eben das
Lächeln verursachte, bestand in der
Vorstellung, das lose Mädchen würde
eine Panne erleiden und von ihm
eingeholt werden. Es ergötzte ihn
der Gedanke derart, daß er ganze
zwanzig Minuten mit ihm spielte.
Vielleicht hätte er sich noch länger
damit befaßt, wenn nicht das seltene
Ereignis der Verwirklichung eines
Wunschtraumes eingetreten wäre. Als
er nämlich nach einer Biegung der
Straße wieder in die Gerade kam, sah
er in geringer Entfernung einen Wagen
halten, in dessen geöffneter Motorhaube
ein blonder Mädchenkopf steckte. Der
Mann lachte zufrieden und beschleu-
nigte den Schritt. Sein Kommen
wurde nicht bemerkt.
„Aha," sagte er, „da sind wir ja!"
Marga richtete sich rasch auf, ihr
Blick glich einem Fragezeichen.
„Es liegt wohl am Vergaser," sagte
sie, „verstehen Sie etwas davon?"
„Lm", meinte der Mann, machte sein
fürchterlichstes Gesicht, zog den Rock aus
und legte ihn auf den Wagen. — „Wollen
Sie mir helfen ?" fragte Marga unsicher.
242
„Lelfen? Kommt nicht in Frage. Ich bin nämlich der Idiot!"
Marga zuckte zusammen. „O —" stammelte sie, „das habe ich
nicht so gemeint
„Aber gesagt," sprach der Mann grimmig und krempelte sich die
Lemdärmel auf. „Sei höflich zu Fußgängern! Strafe muß sein!"
„Was wollen Sie?" rief Marga ängstlich. „Sie wollen doch nicht ein
Mädchen—" — „Doch!" sagte der Mann und ging langsam auf sie zu.
„Ich schreie um Lilfe —"
„Schreien Sie ruhig, es ist weit und breit keine Seele —"
„Ich kratze Ihnen die Augen aus —"
„Kratzen Sie!" sagte der Mann und hatte schon mit festem Griff
ihre Gelenke in seinen Länden. And bevor sie wußte, was eigentlich
geschah, brannte ein Kuß auf ihren Lippen. Dann gab er sie frei.
„Scheusal!" zischte Marga.
„Geben Sie mir die Schraubenschlüssel!" sagte der Mann, wie
wenn nichts gewesen wäre, und beugte sich über den Motor.
Das Mädchen wußte nicht, sollte es weinen oder lachen. Dazu
kam noch die grenzenlose Verblüffung. Wie verhalte ich mich einem
Mann gegenüber, der die Frechheit hat, ein Mädchen auf einsamer
Landstraße zu küssen? Wenn außerdem kein Schutzmann anwesend ist?
Den ich außerdem Idiot genannt habe? And der mir obendrein noch
gefällt?
Da sie so verwirrt war, daß sie
keine Antwort auf die Fragen fand,
ging sie artig zum Werkzeugkasten und
reichte demMann dieSchraubenschlüffel.
Er nahm sie schweigend in Empfang
und begann den Vergaser zu zerlegen.
„So," sagte er nach einer halben
Stunde, „ich glaube, wir haben es jetzt.
Starten Sie einmal!"
Der Motor sprang an.
„Danke." — „Bitte."
„Entschuldigen Sie sich wenigstens
für den Aeberfall!"
„Entschuldigen Sie sich für den
Idioten?" — „Gut, ich bitte also um
Entschuldigung."
„Ich bitte ebenfalls um Entschul-
digung."
„Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?"
„Danke, ich gehe zu Fuß. Das ist
auch der Zweck meiner Wanderung."
„Idiot!" — „Was?" rief der Mann,
sprang hinzu, verbiß das Lachen und ver-
suchte, ein schreckliches Gesicht zu machen.
„Sie beleidigen mich neuerdings?"
„Nun," meinte Marga, „dann stra-
fen Sie mich eben nochmals."
„Das ist etwas anderes," sprach der
Mann, ging um den Wagen herum,
setzte sich neben sie und strafte sie dies-
mal gründlich. Dann fuhren sie lang-
sam der untergehenden Sonne entgegen.
weh getan, aber die zehn M,die tun weh!"
Von Ralph Lrban
Marga fuhr ganz allein mit dem Wagen ihres Vaters. Der mochte
dies zwar nicht gerne, aber da ausgewachsene Töchter ihren Willen durch-
zusetzen pflegen, kümmerte sie sich nicht viel um das leise väterliche Knur-
ren. Außerdem besaß sie seit kurzer Zeit den Führerschein und benützte
daher jede Gelegenheit, um ihre Fahrkunst zu vervollkommnen. Leute
hatte sie eine Freundin besucht, die in einem Dorf ihr Landjahr machte.
Nun befand sich Marga auf der Rückfahrt in die Stadt.
Die Nebenstraße, die das Dorf mit der Lauptverkehrslinie ver-
band, war schmal und kurvenreich und wurde auch nur selten von
Kraftwagen benutzt. Eben fuhr Marga mit mäßiger Geschwindigkeit
in eine Kurve ein, als sie mitten auf der Straße knapp vor sich einen
Mann erblickte, der sich in gleicher Richtung bewegte. Die Bremsen
kreischten, das Boschhorn heulte. Der Mann sprang mit beiden Beinen
zugleich hoch und schnellte mit einem wüsten Satz an den Straßenrand.
„Idiot!" rief Marga und deutete gegen die Stirn. Diese Anart
hatte sie von einem Vetter gelernt, der alles, was ihm störend in den
Weg kam, mit erlesenen Kraftausdrücken zu belegen Pflegte, sobald er
am Steuer saß. — Marga sah flüchtig in ein wütendes braunes Männer-
gesicht, trat kräftig auf den Gashebel und brauste lachend davon.
Eine Minute später hatte sie den Zwischenfall vergeffen.
Anders der Fußgänger. Nach dem Schreck ärgerte er sich noch eine
Weile grün,aberbald daraufmarsckierte
er mit einem kleinen Lächeln auf den
Lippen munter weiter. Er befand sich
auf einer Fußwanderung und hatte
demgemäß Zeit, sich allerhand Bilder
auszumalen. And jenes, das eben das
Lächeln verursachte, bestand in der
Vorstellung, das lose Mädchen würde
eine Panne erleiden und von ihm
eingeholt werden. Es ergötzte ihn
der Gedanke derart, daß er ganze
zwanzig Minuten mit ihm spielte.
Vielleicht hätte er sich noch länger
damit befaßt, wenn nicht das seltene
Ereignis der Verwirklichung eines
Wunschtraumes eingetreten wäre. Als
er nämlich nach einer Biegung der
Straße wieder in die Gerade kam, sah
er in geringer Entfernung einen Wagen
halten, in dessen geöffneter Motorhaube
ein blonder Mädchenkopf steckte. Der
Mann lachte zufrieden und beschleu-
nigte den Schritt. Sein Kommen
wurde nicht bemerkt.
„Aha," sagte er, „da sind wir ja!"
Marga richtete sich rasch auf, ihr
Blick glich einem Fragezeichen.
„Es liegt wohl am Vergaser," sagte
sie, „verstehen Sie etwas davon?"
„Lm", meinte der Mann, machte sein
fürchterlichstes Gesicht, zog den Rock aus
und legte ihn auf den Wagen. — „Wollen
Sie mir helfen ?" fragte Marga unsicher.
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„Lelfen? Kommt nicht in Frage. Ich bin nämlich der Idiot!"
Marga zuckte zusammen. „O —" stammelte sie, „das habe ich
nicht so gemeint
„Aber gesagt," sprach der Mann grimmig und krempelte sich die
Lemdärmel auf. „Sei höflich zu Fußgängern! Strafe muß sein!"
„Was wollen Sie?" rief Marga ängstlich. „Sie wollen doch nicht ein
Mädchen—" — „Doch!" sagte der Mann und ging langsam auf sie zu.
„Ich schreie um Lilfe —"
„Schreien Sie ruhig, es ist weit und breit keine Seele —"
„Ich kratze Ihnen die Augen aus —"
„Kratzen Sie!" sagte der Mann und hatte schon mit festem Griff
ihre Gelenke in seinen Länden. And bevor sie wußte, was eigentlich
geschah, brannte ein Kuß auf ihren Lippen. Dann gab er sie frei.
„Scheusal!" zischte Marga.
„Geben Sie mir die Schraubenschlüssel!" sagte der Mann, wie
wenn nichts gewesen wäre, und beugte sich über den Motor.
Das Mädchen wußte nicht, sollte es weinen oder lachen. Dazu
kam noch die grenzenlose Verblüffung. Wie verhalte ich mich einem
Mann gegenüber, der die Frechheit hat, ein Mädchen auf einsamer
Landstraße zu küssen? Wenn außerdem kein Schutzmann anwesend ist?
Den ich außerdem Idiot genannt habe? And der mir obendrein noch
gefällt?
Da sie so verwirrt war, daß sie
keine Antwort auf die Fragen fand,
ging sie artig zum Werkzeugkasten und
reichte demMann dieSchraubenschlüffel.
Er nahm sie schweigend in Empfang
und begann den Vergaser zu zerlegen.
„So," sagte er nach einer halben
Stunde, „ich glaube, wir haben es jetzt.
Starten Sie einmal!"
Der Motor sprang an.
„Danke." — „Bitte."
„Entschuldigen Sie sich wenigstens
für den Aeberfall!"
„Entschuldigen Sie sich für den
Idioten?" — „Gut, ich bitte also um
Entschuldigung."
„Ich bitte ebenfalls um Entschul-
digung."
„Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?"
„Danke, ich gehe zu Fuß. Das ist
auch der Zweck meiner Wanderung."
„Idiot!" — „Was?" rief der Mann,
sprang hinzu, verbiß das Lachen und ver-
suchte, ein schreckliches Gesicht zu machen.
„Sie beleidigen mich neuerdings?"
„Nun," meinte Marga, „dann stra-
fen Sie mich eben nochmals."
„Das ist etwas anderes," sprach der
Mann, ging um den Wagen herum,
setzte sich neben sie und strafte sie dies-
mal gründlich. Dann fuhren sie lang-
sam der untergehenden Sonne entgegen.
weh getan, aber die zehn M,die tun weh!"
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Der Zahn, Herr Doktor, hat gar nicht weh getan..."
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1939
Entstehungsdatum (normiert)
1934 - 1944
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 191.1939, Nr. 4918, S. 242
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg