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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 4.1929

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Riezler, Walter: Die atonale Welt
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https://doi.org/10.11588/diglit.13710#0047
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DIE ATONALE WELT

Wenn es sich nur um ein musikalisches Pro-
blem handelte, brauchte uns die Frage der Ato-
nalität an dieser Stelle nicht zu beschäftigen. Es
scheint aber diese Bewegung, die von Jahr zu
Jahr mehr Kräfte mit sich reißt und allmählich
auch von der großen Hörerschaft der Theater
und Konzerte ernst genommen wird, aus einer
Tiefe zu kommen, in der auch alle anderen kul-
turellen Erscheinungen verwurzelt sind. Auch die
Atonalität ist ein Symptom der Weltenwende, in
der wir leben, und vielleicht ist es möglich,
gerade von diesem Punkte aus eine neue Er-
kenntnis über die Art der Wende zu gewinnen.

Freilich gibt es auch „Vorstufen" der atona-
len Musik, ist es möglich, auch sie als eine folge-
richtige Weiterführung gewisser schon in der
tonalen Musik der jüngsten Vergangenheit wirk-
samen Tendenzen zu begreifen: schon vor 1900
beginnt sich bei Bruckner, Mahler und Pfitzner
die einzelne Linie zu verselbständigen, die har-
monische Bindung, sozusagen die „Vertikale" zu
lockern. Aber dieser ganze „lineare Kontra-
punkt" spielt sich doch noch auf dem Hinter-
grunde der tonalen Harmonik ab. Die im wahren
Sinne „atonale" Musik dagegen, wie sie sich
nach einer vorläufigen Verwirklichung durch
Debussy etwa seit 1910 allmählich entwickelt hat
und heute in Hindemith ihren stärksten und ge-
hörtesten Verkünder besitzt, kennt einen solchen
Hintergrund nicht mehr. Sie glaubt nicht mehr an
die Gültigkeit der alten harmonischen Gesetze
und scheint überhaupt den Begriff der „Harmo-
nie" nicht mehr zu kennen. Welche „Gesetze"
dieser Musik zugrunde liegen — nur soweit sie
nicht willkürlich gemacht, sondern organisch ge-
wachsen ist, hat sie Anspruch auf Geltung —,
ist noch nicht erforscht, wird kaum geahnt. Deut-
lich ist nur eine ganz außerordentliche Energie
und „Vitalität" der nun frei gegeneinander ge-
führten melodischen Linien. Die „Horizontale"
scheint allein zu herrschen.

Was damit aufgegeben ist, ist ungeheuer. Seit
300 Jahren war die Herrschaft der „Tonalität"
unbestritten. Um 1600 gelang die Entdeckung
der harmonischen „Kadenz", das heißt des ge-
setzmäßigen, auf der Natur der Obertöne be-
ruhenden, daher nicht etwa willkürlich festge-
stellten, sondern in der Natur selbst begründe-
ten Zusammenhanges der drei Grundakkorde
(der 1., 4. und 5. Stufe). Nun erst gab es akkord-
liche Fortschreitungen, die ihre Begründung in
sich selbst, nicht in der melodischen Linie tru-
gen, nun erst war der „Tonraum" geschaffen und
klar dimensioniert. Nun erst gab es die gesetz-
mäßig gebaute, mit Notwendigkeit sich entwik-
kelnde Melodie und damit das Wunder der orga-
nischen „Gestalt in der Zeit". Ein unendlicher
Reichtum solcher Gestalten blühte nun auf, zu
immer kunstvolleren Formungen entwickelte sich
die Musik, und schließlich wurde das ganze Werk
zu einer in sich geschlossenen, mit organischer
Logik emporwachsenden „Gestalt". Und als
dann im Zeitalter der Romantik an die Stelle der
„Gestalt" die frei schwebende Empfindung trat
und die harmonische „Farbe" immer mehr an Be-
deutung gewann, da wurde der „Tonraum" nicht
etwa verneint, sondern er behielt seine Bedeu-
tung, nur daß er nun nicht so sehr mit Gestalten
wie mit Licht und Farbe erfüllt war — ähnlich
wie die Malerei des Barock an Stelle der plasti-
schen Gestalt und des linearen Raumgefüges
das Licht setzt und dem Raum damit nichts von
seiner Gewalt nimmt, ihm nur noch mehr Mystik
verleiht. Noch die Chromatik des Tristan ist fest
gegründet auf den Gesetzen der Tonalität, und
noch die zerfaserte Harmonik Max Regers ruht
auf dem gleichen Grunde.

Es gehört zu den merkwürdigsten Tatsachen
der Geschichte des menschlichen Geistes, daß
die Naturtatsache der Tonalität der musiktrei-
benden Menschheit jahrtausendelang unbekannt

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