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Münsterbau-Verein <Freiburg, Breisgau> [Hrsg.]
Freiburger Münsterblätter: Halbjahrsschrift für die Geschichte und Kunst des Freiburger Münsters — 2.1906

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Panzer, Friedrich: Der romanische Bildfries am südlichen Choreingang des Freiburger Münsters
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https://doi.org/10.11588/diglit.2397#0026

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Panzer, Der romanische Bilderfries am südlichen Choreingang

beobachtete; aber auch da wäre die Darstellung sehr
seltsam und die Hauptperson des beobachtenden
Königs fehlte ganz. Wir werden uns also schon
nach einer andern Erklärung umsehen müssen.

Stellen wir denn zunächst fest, dass die Figuren
unserer Gruppe in einen wohlbekannten Überliefe-
rungskreis hineingehören: wir haben in ihnen Sirenen
zu erblicken.

Von allen antiken Fabelwesen hat außer dem
Greif das Mittelalter wohl keines mehr beschäftigt
als die Sirene91. War doch schon durch den bibli-
schen Text Veranlassung gegeben, sich mit ihnen zu
befassen. In der Septuaginta war ein hebräisches
Wort, das „Strauß" bedeutet, mehrfach durch cssipr^ve?
wiedergegeben und an einer Stelle (Jes. XIII, 22)
hatte auch Hieronymus die sirenes beibehalten.

So hat denn auch der Physiologus sie aufgenom-
men und in einem Kapitel mit den Kentauren be-
handelt. Die Stelle lautet in der ältesten deutschen
Übersetzung, die noch dem 11. Jahrhundert ent-
stammt95: In demo mere sint wunderlfhu wihtir, diu
heizzent sirene. Sirene sint meremanniu (Meer-
dämonen) unde sint wibe gelth unzin (bis) ze demo
nabilin, dannan üf (Missverständnis; richtig: von da
abwärts) vögele unde mugin vile scöno singen. So
si gesehint man an demo mere varin, so singen sio
vilo scöne, unzin (bis) si des wunnisamin lfdes so
gelustigot werdin, daz si insläfin. So daz mermanni
daz gesihit, so verd ez in unde brihit (zerreißt) si.
An diu bizeinet (bezeichnet) ez den fiant (den bösen
Feind, Teufel), der des mannis muot spenit (lockt)
ze den weriltlihen lusten. Auch des Odysseus be-
rühmtes Sirenenabenteuer hat das Mittelalter, obwohl
es den Homer nicht las, keineswegs vergessen und
bis ins einzelne hinein nach seiner Weise gedeutet.
Der deutsche Dichter Herbort von Fritzlar zwar er-
zählt die Geschichte in seinem Lied von Troye ohne
alle Prätentionen96, aber Honorius von Autun weiß sie
in seinem Speculum ecclesiae bis in alle Einzelheiten
geistlich zu deuten. Nach ihm bedeutet das Meer
diese Welt, die Insel der Sirenen die Freude der

35. Aus der Krypta des Münsters zu Basel.

36. Kapital aus dem Chorumgang des Münsters zu Basel.

Welt, die drei Sirenen die drei Laster der avaricia,
jactantia und luxuria, die des Menschen Seele in tot-
bringenden Schlaf versenken. Ulysses ist der Weise,
sein Schiff die Kirche, der Mastbaum das Kreuz,
das bewahrende Wachs die Inkarnation Christi97. In
genauer Anlehnung an Honorius hat Herrad von
Landsberg, die Äbtissin auf dem Odilienberg, die
Anekdote in ihrem Hortus deliciarum erzählt98, auch
in die große Sammlung der Gesta Romanorum ist
sie übergegangen99 und die bildende Kunst hat sich
ihrer bemächtigt. Schon auf altchristlichen Sarko-
phagen findet man die Szene dargestellt; Herrad hat
den Sirenen drei große Bilder gewidmet, auf deren
einem wirklich Odysseus erscheint, während die
andern die Einschläferung der Schiffer durch das
Spiel der Sirenen und das Zerreißen der Betörten
durch die Ungeheuer (Fig. 38) darstellen. Jenes erste
Stadium findet sich auch sonst gebildet, z. B. in
Physiologusillustrationen (Fig. 39) oder skulpiert an
einem Kapital des Kreuzgangs der Stiftskirche zu
Neuberg100.

Auch die mittelalterliche Literatur zeigt die Si-
rene als eine der beliebtesten und bekanntesten Vor-
stellungen. In der deutschen Dichtung wird sie
außerordentlich oft erwähnt. Nicht bloß, dass man
in geistlichem Sinne sie als Bild der Lockungen der


 
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