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Harth, Dietrich
Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis — München, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.2942#0132
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IV. Natur und Kunst

Was ist der Mensch?

Wie die Begriffe „Leib" und „Seele", so stehen auch die Begriffe
„Natur" und „Kunst" seit Anbeginn des abendländischen Den-
kens in einem beunruhigenden Spannungsverhältnis. Das hat
sich mit dem Anbruch des Morgens in den neuzeitlichen Wis-
senschaften nicht geändert. Ganz im Gegenteil: Im zunehmen-
den Licht sind die Spannungen nur schärfer hervorgetreten. Die
Kunst, zunächst als Handwerk und Technik verstanden, ist mit
Arbeit und rationaler Planung verbunden. Sie richtet die Natur
zu, indem sie deren Ressourcen in den Dienst der menschlichen
Selbsterhaltung stellt, sie domestiziert den Wildwuchs, um ihn
dem Technikideal einer rational steuerbaren Ordnung zu unter-
werfen, sie verbessert die natürlichen Wachstums- und Rei-
fungsprozesse durch Eingriff im Sinne produktionssteigernder
Wirtschaftsprinzipien. Kurz: technische Bearbeitung, wissen-
schaftliche Vermessung und Vergesellschaftung bringen ein an-
thropomorphes Naturbild hervor, dessen Begriff sich darauf
reduziert, daß alles Produktive in der Natur von selbst ge-
schieht, während der von der Natur stiefmütterlich behandelte,
weil instinktarme Mensch um der Lebenserhaltung willen seine
Produktivität planend absichern und gemeinschaftlich arbei-
tend steigern muß. Die Paradiesesmythe hält fest, wie der
Mensch leben könnte, hätte sich sein animalischer Appetit nicht
wunderbarerweise einem geistigen Zweck zugewendet. Das
„Märchen" (Lessing) ist nur in einem winzigen Punkt zu korri-
gieren: Nicht der Genuß der Frucht vom Baum der Erkenntnis
war der Sündenfall, sondern der Abschied vom Naturzustand.
Erst mit dem Heraustreten aus diesem Zustand war der
Mensch, um überleben zu können, gezwungen, den Samen der
Erkenntnis auszusäen, die Pflanze zu kultivieren, die Frucht zu

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