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Harth, Dietrich
Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis — München, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.2942#0133
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ernten und sie für den Genuß in kollektiver Gemeinschaft zu-
zubereiten.

Auch die Natur des Menschen wurde früh schon entweder
wie ein brachliegendes Feld oder wie eine störrische Bestie be-
trachtet, die beide der Kultivierung bzw. Domestizierung be-
dürfen. Erziehung heißt daher die Arbeit an dieser inneren Na-
tur, die sich freilich von der außermenschlichen dadurch unter-
scheidet, daß die Keime der Selbstüberschreitung bereits in ihr
stecken. Sie sind durch Erziehung zu kultivieren, zu veredeln, ja
zu verbessern: die Keime des Sprachvermögens, der planenden
Selbsterhaltung (Arbeit), der sozialen Organisation (Herr-
schaft). Werden diese Vermögen über die bloß biologischen
Abläufe der natürlichen Organismen erhöht, so fällt damit eine
Wertentscheidung zugunsten der Kulturfähigkeit. Auf die
Spitze getrieben, geht diese Entscheidung soweit, Kunst und
Technik als einzigartige Mittel sogar zur Verbesserung der Na-
turgenetik zu begreifen. Eine Auffassung, die in praxi das gege-
bene Natursubstrat in künstliche, experimentell erzeugte Kri-
senzustande versetzt, um am Ausgang der Versuchsanordnung
synthetische Stoffe zu ernten, deren riskanter Gebrauch die
Idee der Verbesserung depraviert: sie schlägt in Zerstörung um.
Diesem zweideutigen Antrhopozentrismus entspricht heute ein
Bild der Natur, das den Traum von der Rückgewinnung des
Paradieses, der die Arbeit an der Natur einst als Hoffnung und
Utopie beflügelte, bis zur Lüge entstellt hat. Ein instrumentali-
siertes Naturverständnis liegt dem zugrunde, das die Wert-
struktur des anthropomorphen Naturbegriffs verdrängt.

Wenn Rousseau Mitte des 18.Jahrhunderts die Klage über
den Verlust der Natur laut werden läßt, so bezieht er sich zwar
noch nicht auf die Folgen der technischen Arbeit, aber auf de-
ren wissenschaftliche und neuzeitlich-philosophische Prinzi-
pien. Sein Bild des „natürlichen Menschen" ist nicht wie das
aristotelische ein Endprodukt der in der Natur des Homo erec-
tus liegenden, durch kulturelle Arbeit zu veredelnden Anlagen,
sondern verweist auf einen vor dieser Arbeit liegenden Zustand
der Selbstgenügsamkeit. Durch einen geschichtlichen Zufall,
dessen Grund in der Freiheit der menschlichen Natur liegt, ist

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