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Harth, Dietrich
Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis — München, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.2942#0171
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V. Vernunft, Religion und bürgerliche Gesellschaft

„Jeder hat seine eigene Hermeneutik."
(Axiomata X)

Religion und Kultur besitzen zwar keinen gemeinsamen Bedeu-
tungsgrund, und dennoch sind sie in der Sache kaum auseinan-
der zu halten. Religion ist in ihren schriftlich geronnenen und
die Lebenszeit ritualisierenden Formen ein wesentlicher Be-
standteil des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft. Mit
den Alten zu reden: Religio vinculum societatis. Das gilt nicht
nur für entwickelte Gesellschaften. Auch die Organisation
überschaubarer Lebenswelten nährt sich von symbolischen
Formen, deren kultische Inszenierung und ritualisierte Wieder-
holung Rhythmus und Ordnung des Zusammenlebens, ja selbst
die vergleichsweise rationalen Strukturen der Arbeit und Herr-
schaftsausübung ordnen und legitimieren. Die frühesten Er-
scheinungen der dauerhaften Informationssicherung und -Ver-
arbeitung vom Mythogramm bis zum Alphabet lagen ebenso in
den Händen von Priestern wie die Rechtsprechung und Heili-
gung politischer Macht. Die Exzesse sind bekannt. Bis heute ist
die traurige Wahrheit von der kulturellen Vaterschaft des Krie-
ges aufs engste mit religiösem Fanatismus verbunden. Und wenn
nicht gerade um irgendwelcher Glaubensdogmen willen Blut
vergossen wird, so beutet doch die offizielle Propaganda überall
und zu allen Zeiten die ältesten Bildrepertoires religiöser Dämo-
nologie aus und erklärt Krieg und Opfer zur „heiligen" Sache.
Religion bedeutet indessen nicht nur strukturelle und kultu-
relle Gewalt. Semantisch steht das Wort in der Nähe solcher
Begriffe wie „Sorgfalt" oder Aufmerksamkeit" und - in populä-
rem Verstände - der „Verpflichtung". Dieses Bedeurungsspek-
trum spielt darauf an, daß Sorge und Aufmerksamkeit für die
anderen, soll die gebrechliche kollektive Ordnung Bestand ha-

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