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Harth, Dietrich
Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis — München, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.2942#0170
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stand „nicht bloß erblickt", sondern „ihn lange und wiederhol-
ter maßen betrachtet" (Laokoon III). Wir verstehen in dieser
psychisch affizierten und zugleich kontemplativdenkenden
Teilnahme den Sinn sowohl der materiellen „Bildersprache"
wie der inszenierten poetischen Rede auf unmittelbare Weise,
nämlich ohne auf das „Medium" der konventionellen Zeichen,
der Schrift, der Wörter und ihrer Orthogrammatik, zu achten.

Die intuitive Erkenntnis, dieses Zugleich von sinnlicher An-
schauung und Denken, gehört - so gesehen - zu den Grundla-
gen jener Kunst des Verstehens, die über den zufälligen .Buch-
staben' (das willkürliche Zeichen) hinaus will, um mit dem
.Geist' - der poetischen Welt, der menschlichen Empfindung, ja
auch der Religion - zu kommunizieren. Das Verstehen wider-
setzt sich der formalen Disziplinierung und ist dennoch - was
die Wächter des logischen, des widerspruchsfreien Diskurses
nicht wahrhaben wollen - eine Form der Erkenntnis, die allen
Forderungen nach begrifflicher Exaktheit voraus- und zugrun-
deliegt.

Lessings Mischungsaxiom und sein Plädoyer für das Mitge-
fühl tragen diesem Bruch in der Rationalität ausdrücklich Rech-
nung. Alles Verstehen ist Sympathisieren! wird es wenig später
mit großem Nachhall bei Herder heißen. Der Satz spricht aus,
was in der Poetik des Mitleidens oder Sympathisierens unter
den konventionellen Begriffen der rhetorischen „Enargie" und
der „Intuitiven Erkenntnis" noch verborgen liegt: daß wir ein-
ander nur über jene Sprache der Analogie verstehen und aner-
kennen können, die gleichsam wie ein Murmeln hinter dem
dunklen Spiegel der Konvention erklingt.
 
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