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Harth, Dietrich
Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis — München, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.2942#0033
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II. Alphabetisierung der Affekte

Frühe Dramaturgie 1

Unter Dramaturgie verstand die alte Welt ein Schauspiel-Regi-
ster, in dem der Leser Auskunft über das Theater-Repertoire
einer bestimmten Zeit oder Bühne finden konnte. 1749 und im
Folgejahr bringt Lessing, er lebt jetzt in Berlin, zusammen mit
seinem Vetter Christlob Mylius die Beiträge zur Historie und
Aufnahme des Theaters heraus, die erste deutsche Theaterzeit-
schrift. Die Herausgeber, die zugleich die Autoren sind, bleiben
anonym, weil sie nicht bloß wie tüchtige Buchhalter registrie-
ren, sondern auch Kritik üben wollen. Sie haben den Ehrgeiz,
bemerkt Lessing in der Vorrede, die besten Muster „alter und
neuer Meister" in Übersetzungen und kritischen Kommentaren
vorzustellen, um der darniederliegenden Qualität des deutschen
Theaters aufzuhelfen.

Das Programm ist gesamteuropäisch und geht weit zurück bis
in die Antike. Es ist nicht, wie in Gottscheds Versuchen, auf die
französischen Muster als die vermeintlich besten beschränkt.
Besonderen Wert legen die Autoren auf die dem deutschen Pu-
blikum so gut wie unbekannte spanische und englische Theater-
literatur. Denn: „wollte der Deutsche in der dramatischen Poe-
sie seinem eignen Naturelle folgen, so würde unsre Schaubühne
mehr der englischen als französischen gleichen." Shakespeare
wird konsequenterweise an erster Stelle genannt.

Muster sind nicht nur zur bloßen Nachahmung da. Sie kön-
nen als Modelle studiert und erörtert werden und müssen es
gar, wenn der Leser etwas aus ihnen lernen soll. Dabei folgt
Lessing nicht einer Präferenz für die antiken oder für die mo-
dernen Autoren. Den alten Streit über den Vorzug der einen
über die andern, die sog. „Querelle", hält er für nichtig. Quali-
tät zählt, und diese läßt sich, das ist die hochmütige Meinung

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