Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Harth, Dietrich
Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis — München, 1993

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2942#0090
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
III. Kunst und Wissenschaft der Kritik

In Gängen voll Nacht zum
glänzenden Throne der Wahrheit
E. v. Kleist/G. E. Lessing

Das 18. Jahrhundert, das gefeierte Jahrhundert der Kritik, war
eine Zeit der Revolutionen, die keinen Lebensbereich, keine
kulturelle Nische verschonten. Allenthalben war in den Debat-
ten der literarischen Intelligenz der Revolutionsbegriff gegen-
wärtig, auch wenn er noch nicht direkt mit dem politischen
Umsturz in Verbindung gebracht wurde.

Die Nähe von Horror und Mitgefühl, über die Lessing (und
nicht nur er) nachdachte und mit den Freunden diskutierte, war
ein Symptom der Zeit. Die Zeit selbst schien, hin und her gejagt
zwischen optimistischen Zukunftserwartungen und jähen Ver-
änderungen, an denen nicht zuletzt die neue Intelligenz mit
dem geschriebenen Wort und der Dritte Stand tatkräftig mit-
wirkte, rascher als in früheren Tagen voranzuschießen. Alte,
bewährte Handlungsmaximen, bequeme Denkgewohnheiten
und solide Weltbilder erschienen nun brüchig und sanken zu-
rück in die Ruinenlandschaften der Vergangenheit. Die Gegen-
wart wurde von vielen wie ein unter vollen Segeln stehendes
Schiff gesehen, das Stürmen entgegentrieb, die nicht nur ge-
fürchtet, sondern auch hier und da von einzelnen mit erstaunli-
cher prognostischer Präzision vorausgesagt wurden.

Der Blick nach vorn veränderte das Bild der Vergangenheit,
die vor dem Hintergrund der neuen Einsichten und Hoffnun-
gen bald wie eine verkehrte Welt aussah. Das war auch Lessings
Meinung, wenn es um die Frage ging, wie weit die wissenschaft-
liche Erkenntnis der Modernen im Vergleich mit den Alten
tragen könne. Diese „taten den letzten Schritt zum Ziele nicht,"

89
 
Annotationen