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Robert, Carl
Hallisches Winckelmannsprogramm (Band 16): Die Nekyia des Polygnot — Halle a. S., 1892

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https://doi.org/10.11588/diglit.6002#0005
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,.I)ie unwiderstehliche Begierde nach unmittelbarem Anschauen, die in dem Menschen durch
Nachrichten von entfernten Gegenständen erregt wird, das Bedürfniss allem demjenigen, was wir
geistiger Weise gewahr werden, auch ein sinnliches Bild unterzulegen, sind ein Beweis der Tüchtigkeit
unserer Natur, die das Einseitige flieht und immerfort das Innere durchs Äussere, das Äussere
durchs Innere zu ergänzen strebt.-1 So leitete am Anfang des Jahrhunderts Goethe seine Besprechung
des ersten Versuches ein, den die Gebrüder Kiepenhausen mit der Reconstruction des Dinpersis
Polygnots gemacht hatten, und er schliesst seine schönen und tiefen Gedanken über die Lesche-
Bilder mit der eindringlichen Mahnung an die Altertumswissenschaft, dass sie immer mehr dem
wünschenswerten Ziele nachstreben solle, „die Vorzeit überhaupt, besonders aber die Kunst der
Vorzeit zur Anschauung zu bringen."

Wenn wir heute am Schluss des Jahrhunderts uns eines ganz unvergleichlich reicheren
Besitzstandes an antiken Kunstschöpfungen erfreuen als Goethe und seine Zeit, so darf und wird
die Freude über das Gewonnene uns nicht hinwegtäuschen über die unermessliche Fülle dessen,
was noch immer fehlt und was grösstenteils für immer verloren ist. Auch von dem Besten, was
uns wieder geschenkt ist, auch von dem Hermes des Praxiteles und den Sarkophagen von Sidon,
wird sich der Blick immer wieder der Betrachtung der ganzen Kunstentwickelung, die wissenschaftliche
Arbeit dem Ausbau der gesamten Kunstgeschichte zuwenden müssen. Dabei aber wird man mit
Freuden inne, dass das neu Gewonnene auch von dem für immer Verlorenen Neues und Wichtiges
zu melden hat.

Wer der Entwickelung der Archäologie in dem letzten Jahrzehnt, unbeirrt von dem Gerede
des Tages, mit ruhigem Blick und selbständigem Urteil gefolgt ist, dem wird nicht entgangen
sein, dass einer der grössten von jenen für immer verloren gegebenen und in gewissem Sinne
auch wirklich verlorenen, immer greifbarere und festere Gestalt gewonnen hat, eben jener, an
den die Worte Goethes zunächst anknüpfen, der Maler Polygnotos von Thasos. Zwei Momente
haben in wesentlich gleicher Weise dazu beigetragen, sein Wirken und seine Schöpfungen aus
der Dämmerung der litterarischen Überlieferung in helleres Licht zu rücken. Um das Jahr 1881
wurde in Orvieto ein rotfiguriger Krater gefunden, der sich sowohl durch seine Darstellung wie
durch gewisse Eigentümlichkeiten der Zeichnung als in engster Beziehung zu einem Gemälde
Polygnotischer Schule stehend auswies;auf diese Thatsache gestützt durfte sich die Vermutung
an die Öffentlichkeit wagen, dass die hier vorliegende, übrigens schon aus zahlreichen älteren

') Moii. d. Inst. XI 38-40, Ann. i Inst. 1882. 273 n".
 
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