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Robert, Carl
Hallisches Winckelmannsprogramm (Band 16): Die Nekyia des Polygnot — Halle a. S., 1892

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https://doi.org/10.11588/diglit.6002#0072
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Das Bild.

Wir haben uns bisher, so lange es galt, die Reconstruction zu gewinnen, von den Beziehungen
der einzelnen Figuren zu einander, soweit solche nicht durch Pausanias ausdrücklich bezeugt sind,
so wenig als irgend möglich beeinflussen lassen. Vereinzelte Ausnahmen, die wir uns bei Prokris
und Paris über die Beschreibung des Pausanias hinaus erlaubt haben, kommen für die Gesamtheit
kaum in Betracht. Ich hoffe dadurch der Reconstruction eine Objectivität gesichert zu haben, die
gestattet, nun auch über die Einzelheiten der Composition, ihre Gliederung, ihren Aufbau, ihre
Gesetze, sowie über den Inhalt des Bildes und die Beziehungen der Gruppen zu einander zuversicht-
licher zu urteilen, als es früher möglich war.

Es springt sofort in die Augen, dass dem Bild ein eigentlicher Mittelpunkt fehlt; Odysseus,
den wir nach den einleitenden Worten der Beschreibung im Centrum suchen würden, ist in der
linken Hälfte und auch hier nicht im mittleren, sondern im oberen Teil angebracht. Die
Gesamtcomposition ist also nicht symmetrisch; vielmehr unterscheidet man deutlich zwei ungleiche
Abteilungen.1) Die kleinere linke reicht im oberen Teil von den Gefährten des Odysseus bis zu
Teiresias, im unteren von der Gruppe des narpoXola? bis zu den Pandareostöchtern, die grössere
rechte reicht oben von Antikleia bis Sisyphos, unten von Antilochos bis Tantalos. Letzterer Teil
entspricht also dem, was Pausanias den Hain der Persephone nennt, ersterer enthält, wie Charon
lehrt, den Eingang zur Unterwelt. Wir wollen beide Teile vorläufig den Vorraum und das Innere
des Hades nennen, obgleich sich diese Bezeichnung im weiteren Verlauf unserer Untersuchung als
nicht ganz correct herausstellen wird. Dass wir aber diese Teilung nicht willkürlich in das
Gemälde hineintragen, dass sie vielmehr tatsächlich von Polygnot beabsichtigt ist, lehrt ihre Wieder-
kehr bei der Iliupersis, die gleichermassen in zwei ungleiche Teile, das Ufer des Hellespont und
die Burg von Troia, zerfällt. Dass etwa eine architectonische Gliederung der Halle zu dieser
Teilung den Anlass gab, ist möglich, aber nicht erweislich, übrigens auch darum nicht sehr wahr-
scheinlich, weil die Stoffe selbst zu solcher Gliederung einluden. Von diesen beiden Teilen nun hat
aber jeder unverkennbar seinen Mittelpunkt, so dass man das Compositionsprincip in dieser Hinsicht
mit einer Ellipse vergleichen könnte. In dem rechten Teil bildet Orpheus, oder wohl richtiger
Orpheus (nebst Promedon) und Marsyas (nebst Olympos), in der linken — nicht etwa Odysseus,
— sondern die schaukelnde Phaidra das Centrum.

') Der in der Beschr. S. 5 gezogene Vergleich mit dem Pronaos und Naos eines Tempels ist also aufzugeben.
 
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