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Nr. 20

JUGEND

1897

DAS

ORAKEL

Märchen

Heinrich Steinitzer,
mit zwei Zeichnungen von
Ludwig Kirschner

obbie lief immer weiter.

Gerade vor ihr lag ein dichtes
Gehölz. Da würde Johanna sie ge-
wiß nicht finden. Und das war so
lustig, wenn sie Johanna schreien
und rufen hörte; und sie selbst saß ganz
mäuschenstill hinter einem Baumstumpf —- ja,
versteckenspielen war eben doch das schönstel

Diese prächtigen Plätze! Schade, daß sie
das Wäldchen noch nicht früher entdeckt hatte.
Großblätterige Farren, Blumen in Menge,
besonders tiefblaue Glockenblumen! Bobbie
hätte fast gejnbelt vor Vergnügen, erinnerte
sich aber noch rechtzeitig, daß sie ja stille sein
müßte, weiter drang sie zwischen den Bäumen
vor. Die standen immer dichter, kaum daß
sie sich mit ihrem dünnen Körper noch durch-
zwängen konnte. Dann wurde es etwas lichter,
riesige Lichen traten an die Stelle der Tannen,
die Sonnenstrahlen fanden nun wieder ihren
weg und glitzerten und glänzten in dem hoch-
gewachsenen, noch thaufeuchten Grase.

Das war ein versteck! Bobbie brauchte
sich nur etwas zu bücken, dann schlugen die
ksalme über ihrenr Kopfe zusammen und Nie-
mand konnte sie sehen.

„Johanna," schrie sie nun laut, „Johanna,
such' mich I"

Todtenstille.

Bobbie wurde es doch etwas ängstlich zu
Mnthe. So allein mitten im Walde! Sie
wollte wieder zurück, aber in dein hohen
Grase war kein weg zu finden. So lief sie
denn weiter, hastiger als zuvor, jedoch den
Ausgang aus dem Walde traf sie nicht. Die
Lichtung wurde noch freier, und da gerade
in der Mitte — Bobbie hielt erschrocken an
— da stand ein merkwürdiges Ding.

„wie eine Statue auf dem Marktplatze,"
dachte Bobbie, aber es war doch etwas An-
deres, ganz durchsichtig, wie von Glas.

Furchtsam trat sie näher. Nichts rührte sich.

Ja, jetzt konnte sie es ganz deutlich sehen,
cs war Glas, Wo die Sonne hintraf, blen-
dete es ordentlich. Lin Mann von Glas!
Das war wirklich komisch. Dnrch den Körper
konnte man die Bäume und Blumen auf der
andern Seite erblicken.

Ganz leise und vorsichtig tippt? sie mit
ihren Fingerchen an das Glas. Das gab einen
feinen, melodischen Ton, wie eine freundliche
Menschenstimme.

Bobbie trat etwas zurück und blickte ihm
in's Gesicht.

Schön war er nicht.

Dicke Backen und kein paar auf dein Kopfe.

Bobbie mußte lachen, was wohl Johanna
dazu sagen würde? lind Papa? Der war so
gescheidt, der wußte sicherlich, wie der gläserne
Mann hier niitten in den Wald kam.

Lr sah so gutmüthig aus. Ligentlich that
er Bobbie leid. So allein, wohin wohl selten
Jemand kam — -—■— „Geht es Dir schlecht,
armer Glasmann?" fragte sie.

„Durchaus nicht," antwortete eine leise,
Helle Stimme, eine richtige Glasstimine.

Fast wäre Bobbie vor Ueberraschung um-
gefallen. Sie ging doch fast jeden Tag über
den Marktplatz, aber gesprochen hatte dort
noch nie eine der Statuen. Oder war es nur
eine Täuschung? Erwartungsvoll sah sie ihn
an und fragte zweifelnd: „Kannst Du wirk-
lich sprechen?"

„Gewiß."

Jetzt hatte sie es ganz deutlich gestört und
auch gesehen, wie sich die Glaszunge bewegte.

Das mußte ein sehr künstlicher Mann sein.
Der konnte sprechen, und ihre Puppen ver-
mochten, so sehr sie auch drückte, nicht mehr
als Papa und Mama zu sage».

Sie wurde ganz neugierig.

„Du! wer bistDu denn eigentlich?" fragte sie.

„Lin Orakel."

„Was ist denn das?"

„Lin Ding, das auf alle Fragen Antwort
gibt."

„Ja?!" Bobbie dachte tief nach. „Weißt
Du denn Alles?"

„Alles!"

„Das ist nicht wahr. Du weißt nicht, wie
ich heiße?"

„Doch. Bobbie."

Woher er das nur wissen konnte!?

„Ah, ich hab's," schrie Bobbie lustig, „Du
bist ein schlaues Orakel! Du hast gehört, wie
Johanna mich gerufen hat."

„Nein, ich habe nichts gehört."

„So. ’ Das wollen wir gleich sehen. Ich
frage Dich etwas, das Du nicht gehört haben
kannst. Wie heißt meine größte Puppe, die
mit dem blauen Kleide?"

„Else."

Bobbie war sprachlos vor Erstaunen. Der
Glasmann wußte wirklich alles. Wenn er
aber alles wußte — das hatte sie ja in der
Schule gelernt — — —. Sie fiel auf die
Knie nieder und sagte: „Du, Du bist der liebe
Gott!"

„Nein, ich bin nur ein Orakel."

Aber Bobbie blieb andächtig vor ihm
knien. Erst, nachdem er stutnm blieb, wagte
sie ihn wieder anznblicken. Lr war nicht
schöner geworden, aber er erschien ihr jetzt ehr-
furchtsvoll. Lin Glasmann, der alles wußte!
Sogar den Nainen ihrer Puppe!

Einige edeit lang betrachteten sie sich schwei-
gend, die kniende Bobbie und das gläserne
Orakel. Bobbie dachte nach, was sie es fragen
könnte, das es doch nicht z» beantworten im
Stande wäre. Aber es fiel ihr nichts ein.

„wenn er weiß, wie meine Puppe heißt,"
sagte sie sich, „dann weiß er Alles," Aber
endlich schien sie doch etwas gefnnden zu haben.
Fröhlich klatschte sie in diepände. „Du, Orakel,"
rief sie, „so schöne Geschichten wie Johanna
weißt Du doch nickt!"

„Ja, ich weiß sie alle."

„Die vom Rothkäppchcn?"

„Gewiß!"

„Auch die von» gläsernen Berg?"

„Auch die."

„Du, das glaube ich nicht. Erzähle sie
einmal!"

Sofort fing der Glasmann zu erzählen an.
Bobbie setzte sich in's Gras und hörte ihm z».
Sie mar begierig, ihn auf einem Fehler zu
ertappen, aber er sagte die Geschichte her, wie
Johanna schon hundertmal gethan hatte.

Als er geendet, sagte Bobbie: „Weißt Du,
Orakel, jetzt glaube ich Dir, Du weißt wirk-
lich alles; aber jetzt erzähle mir eine andere
Geschichte, eine, die ich noch nicht kenne, denn
die von Johanna kenne ich schon alle aus-
wendig."

Und der Glasmann erzählte. Das war
freilich ein Märchen, wie Bobbie noch nie
eines gehört hatte. Beizende Prinzessinnen,
glänzende Paläste, herrliche Landschaften, toll-
kühne Prinzen, gräßliche Drachen kamen darin
vor; und all' das schilderte das Orakel so,
als ob es sie selbst gesehen hätte. Da ge-
schahen die furchtbarsten Abenteuer; schwere
Prüfungen hatte» die Königssöhne zu bestehen,
aber zum Schlüsse nahm alles ein gutes Lude,
der Zauber wurde gelöst, und eitel Freude
und Glückseligkeit herrschten.

Sowie jedoch der Glasmann schwieg, bat
Bobbie: „Bitte, liebes Orakel, erzähle mir
noch ein Märchen," und dann fing er von
Neuem an, und war das erste schön gewesen,
so wurde das zweite noch viel schöner und
das dritte so lebendig und farbenprächtig, daß
Bobbie sich vor Entzücken kaum mehr fassen
konnte.
Register
Heinrich Steinitzer: Das Orakel
Ludwig Kirschner: Zeichnung zum Text "Das Orakel"
 
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