DIE UNBESCHÄDIGTEN
EIN PAAR SOHLEN
„Frau", sagte ich, „da steht in der Zeitung, daß die Ver-
sorgung mit Schuhen der- und nächsterzeit so schlecht
sein wird, daß auf den Kopf in fünfeinhalb Jahren ein
Paar trifft!"
„Wieso auf den Kopf?" fragte meine Frau, die alles
sehr genau nimmt, und dreht das Gas unter dem Malz-
kaffee ab.
„Na, also schön: pro Fußpaar, damit du recht hast. Im
übrigen — wieviel Paar Schuhe habe ich denn eigent-
lich noch?"
„Da braucht's nicht lange zu rechnen! Das Paar, das du
anhast und die in der Kammer, die Braunen, weißt du?"
„Heissa!" rief ich, „gerettet! Für elf Jahre mit Schuhen
versorgt!"
„Dann ist dir entgangen, Schätzchen, daß die Sohlen
von dem Paar in der Kammer längst durch sind!" kühlte
meine Frau meine Begeisterung.
„Es würde sich also darum handeln, die Durchgelaufe-
nen sofort in Reparatur zu geben'', folgerte ich.
„Und du glaubst, daß ich das noch nicht versucht hätte?
O du Anfänger!"
„Weib", sagte ich, „sprich nicht so zu mir! Jetzt werde
ich die Sache in die Hand nehmen!" Ich holte das zer-
rissene Paar, steckte meine letzte Aktive, Marke Tra-
bis', zu mir und verließ das Haus. Eine helle Lachsalve
imeiner Frau hallte mir nach . ..
„Meister", sagte ich, „guten Morgen! Ich hätte hier
ein Paar Schuhe zum Besohlen!"
„Was Sie nicht sagen! Welche Überraschung!" antwor-
tete der Meister und hämmerte, ohne aufzusehen, wei-
ter. „Haben Sie auch die Sohlen und die Nägel gleich
mitgebracht? Und darf ich um Ihr Reparatur-Anwei-
sungsformular bitten, ohne das ich Ihre Schuhe gar
nicht annehmen kann?"
„Und wo bekomme ich das alles?" fragte ich.
„Im Amt, Zimmer 12, I. Stock!"
Im Amt, Zimmer 12, I. Stock, bat ich den freundlichen
jungen Herrn am Schalter um Schuhsohlen, Schuhnägel
und Reparatur-Anweisungsformular; er schien mich je-
doch offenbar nicht zu verstehen, sah mich beunruhigt
an, zog sich zurück und begann auf einen älteren Kol-
legen einzuflüstern. Beide blickten verstohlen zu mir
herüber und sahen sich lächelnd wieder an.
„Größe 43!" rief ich munter, denn ich vermutete, daß
ich mich ungenau ausgedrückt hatte.
Der freundliche junge Herr näherte sich .wieder dem
Schalter, murmelte etwas von „Irrtum" und versicherte
mir, daß es hier weder Sohlen noch Nägel, sondern
bestenfalls ein Reparatur-Anweisungsformular gäbe,
dessen Aushändigung er jedoch nur dann vornehmen
könne, wenn ich im Besitze eines Antragsformulares auf
Aushändigung eines Reparatur-Anweisungsformulars
wäre, das nach entsprechender Uberprüfung meines be-
sonderen Falles in Zimmer 16, II. Stock, erhältlich sei.
Ich hatte Glück, unsägliches Glück! Im Zimmer 16,
II. Stock, erhielt ich nach Uberprüfung meines besonde-
ren Falles nicht nur das Antragsformular, da ich zufäl-
lig im Besitz aller amtlichen Ausweise war, von denen
die Aushändigung jenes Formulares abhängt — nein, ich
war auch in der Lage, die 12 Fragen dieses Formulares
samt eidesstattlicher Erklärung sowie das mir anschlie-
ßend (Zimmer 12, I. Stock) überreichte, 24 Fragen um-
fassende Reparatur-Anweisungsformular samt eides-
stattlicher Erklärung fehlerfrei und ohne die geringsten
Gewissensbisse ausfüllen zu können! Aufgeregt stürzte
ich zum Schuhmacher zurück.
„Und die Sohlen und die Nägel?" fragte der Meister.
„Leider . . .", seufzte ich.
„Ein schwieriger Fall", sagte der Meister. „Aber ich will
sehen, was sich in Ersatzsohlen oder Holzsohlen machen
läßt. Schauen Sie in vier Monaten wieder vorbei."
„Ich muß das Paar in vier Wochen haben!" Dabei ließ
ich nicht ungeschickt meine letzte Zigarette zwischen
eine Ahle und ein Stück Pech auf den Tisch gleiten.
„Schauen Sie in zehn Wochen wieder vorbei", antwor-
tete der Meister.
Das klang schon besser. Ich faßte wieder Hoffnung.
Das war im März gewesen.
Ein strahlender Frühling ging ins Land. Ein prächtiger
Sommer folgte. Ich hauchte nur mehr so über den Boden
dahin. Denn ich spürte das kleinste Kieselchen wie einen
scharfgratigen Granitbrocken unter meinen Sohlen.
Und als die Schnitter das Korn mähten, ging ich wieder
zum Schuhmacher.
„Zu früh! Noch nicht dazugekommen! Sehen Sie sich
diesen Berg Arbeit an!" walzte mich der Meister nieder.
„Und an Ersätzsohlen ist gar nicht mehr zu denken! Ich
werde sehen, was sich in Holzsohlen machen läßt."
, Ausgezeichnet", sagte ich-.
„Und bis in drei Monaten", fügte der Meister hinzu.
Ich ließ, wiederum nicht ungeschickt, meine wirklich
letzte Aktive, Marke ,Arabis', auf den Tisch zwischen
Ahle und Pech gleiten.
„Schauen Sie in acht Wochen wieder vorbei", sagte er.
Dem prächtigen Sommer war ein milder Herbst ge-
folgt. Und als die Bäume sich entlaubten, da wallte ich
wieder zum Meister. Denn es war kalt und naß gewor-
den und ich ging mit meinem einzigen Paar auf deut-
schem Boden . . .
,.Zu früh! Leider, im Augenblick überhaupt unmöglich!"
stöhnte der Meister. „Es ist ein Jammer! Kein Splitter
Holz eingetroffen! Seit Wochen kein Nagel mehr!
Abends kein Arbeiten mehr möglich, weil die letzte
Birne hin ist! Vor vierzehn Tagen ist mir mein Geselle
davon! Und dabei dieser Berg Arbeit! Und außerdem
ist Ihr Reparatur-Anweisungsformular ungültig gewor-
den, weil seit einer Woche neue herausgekommen sind!"
Da zog ich mein zerrissenes Paar Schuhe wieder zurück
und wankte betrübt nach Hause . . .
Aber ich kam doch noch zu Sohlen, durch Zufall, teil-
weise sogar zu Gummisohlen! Ich sägte mir aus den
Seitenwänden der Kaffeemühle meiner Frau — denn
wer braucht heute noch eine Kaffeemühle — ein Paar
Sohlen und klebte sie auf. Unglücklicherweise befand
sich in der rechten Sohle ein Ast, der natürlich schon
beim ersten Gehversuch aussprang. Aber der kleine
Schaden war schnell behoben: ich preßte Kaugummi
hinein. Sehr dauerhaft und wasserdicht!
Ich gehe heute noch darauf!
/. Dünzl
Tvian tauscht
SVur selten ist der Mensch zufrieden
Ttlit dem, was ihm von Qott besebieden.
Des andern Sachen dich berauschen —
Ob Iran, ob Lackschuh, du willst tauschen.
Wohin man blickt, wohin man lauscht-.
1\\an tauscht.
"Was du nicht hast, das hab'n die andern,
Ringlein, Ringlein, du mußt wandern,
Tür ,,Lebenswicht'ges" wird's verscheuert,
Tauscht,,schwarz", man tauscht „zentralgesteuert",
"Wie ,{Hans im Qlück"-, vom Jauscb berauscht,
'Man tauscht.
"Man tauscht beut' nach der "Wilden Bräuche,
lauscht dicke gegen dünne Bäuche,
Wir tauschten frieden gegen Krieg,
Die Niederlage für den Sieg,
Weil wir den Reden, aufgebauscht-.
Qelauscbt. Xurt Leubuscher
131
EIN PAAR SOHLEN
„Frau", sagte ich, „da steht in der Zeitung, daß die Ver-
sorgung mit Schuhen der- und nächsterzeit so schlecht
sein wird, daß auf den Kopf in fünfeinhalb Jahren ein
Paar trifft!"
„Wieso auf den Kopf?" fragte meine Frau, die alles
sehr genau nimmt, und dreht das Gas unter dem Malz-
kaffee ab.
„Na, also schön: pro Fußpaar, damit du recht hast. Im
übrigen — wieviel Paar Schuhe habe ich denn eigent-
lich noch?"
„Da braucht's nicht lange zu rechnen! Das Paar, das du
anhast und die in der Kammer, die Braunen, weißt du?"
„Heissa!" rief ich, „gerettet! Für elf Jahre mit Schuhen
versorgt!"
„Dann ist dir entgangen, Schätzchen, daß die Sohlen
von dem Paar in der Kammer längst durch sind!" kühlte
meine Frau meine Begeisterung.
„Es würde sich also darum handeln, die Durchgelaufe-
nen sofort in Reparatur zu geben'', folgerte ich.
„Und du glaubst, daß ich das noch nicht versucht hätte?
O du Anfänger!"
„Weib", sagte ich, „sprich nicht so zu mir! Jetzt werde
ich die Sache in die Hand nehmen!" Ich holte das zer-
rissene Paar, steckte meine letzte Aktive, Marke Tra-
bis', zu mir und verließ das Haus. Eine helle Lachsalve
imeiner Frau hallte mir nach . ..
„Meister", sagte ich, „guten Morgen! Ich hätte hier
ein Paar Schuhe zum Besohlen!"
„Was Sie nicht sagen! Welche Überraschung!" antwor-
tete der Meister und hämmerte, ohne aufzusehen, wei-
ter. „Haben Sie auch die Sohlen und die Nägel gleich
mitgebracht? Und darf ich um Ihr Reparatur-Anwei-
sungsformular bitten, ohne das ich Ihre Schuhe gar
nicht annehmen kann?"
„Und wo bekomme ich das alles?" fragte ich.
„Im Amt, Zimmer 12, I. Stock!"
Im Amt, Zimmer 12, I. Stock, bat ich den freundlichen
jungen Herrn am Schalter um Schuhsohlen, Schuhnägel
und Reparatur-Anweisungsformular; er schien mich je-
doch offenbar nicht zu verstehen, sah mich beunruhigt
an, zog sich zurück und begann auf einen älteren Kol-
legen einzuflüstern. Beide blickten verstohlen zu mir
herüber und sahen sich lächelnd wieder an.
„Größe 43!" rief ich munter, denn ich vermutete, daß
ich mich ungenau ausgedrückt hatte.
Der freundliche junge Herr näherte sich .wieder dem
Schalter, murmelte etwas von „Irrtum" und versicherte
mir, daß es hier weder Sohlen noch Nägel, sondern
bestenfalls ein Reparatur-Anweisungsformular gäbe,
dessen Aushändigung er jedoch nur dann vornehmen
könne, wenn ich im Besitze eines Antragsformulares auf
Aushändigung eines Reparatur-Anweisungsformulars
wäre, das nach entsprechender Uberprüfung meines be-
sonderen Falles in Zimmer 16, II. Stock, erhältlich sei.
Ich hatte Glück, unsägliches Glück! Im Zimmer 16,
II. Stock, erhielt ich nach Uberprüfung meines besonde-
ren Falles nicht nur das Antragsformular, da ich zufäl-
lig im Besitz aller amtlichen Ausweise war, von denen
die Aushändigung jenes Formulares abhängt — nein, ich
war auch in der Lage, die 12 Fragen dieses Formulares
samt eidesstattlicher Erklärung sowie das mir anschlie-
ßend (Zimmer 12, I. Stock) überreichte, 24 Fragen um-
fassende Reparatur-Anweisungsformular samt eides-
stattlicher Erklärung fehlerfrei und ohne die geringsten
Gewissensbisse ausfüllen zu können! Aufgeregt stürzte
ich zum Schuhmacher zurück.
„Und die Sohlen und die Nägel?" fragte der Meister.
„Leider . . .", seufzte ich.
„Ein schwieriger Fall", sagte der Meister. „Aber ich will
sehen, was sich in Ersatzsohlen oder Holzsohlen machen
läßt. Schauen Sie in vier Monaten wieder vorbei."
„Ich muß das Paar in vier Wochen haben!" Dabei ließ
ich nicht ungeschickt meine letzte Zigarette zwischen
eine Ahle und ein Stück Pech auf den Tisch gleiten.
„Schauen Sie in zehn Wochen wieder vorbei", antwor-
tete der Meister.
Das klang schon besser. Ich faßte wieder Hoffnung.
Das war im März gewesen.
Ein strahlender Frühling ging ins Land. Ein prächtiger
Sommer folgte. Ich hauchte nur mehr so über den Boden
dahin. Denn ich spürte das kleinste Kieselchen wie einen
scharfgratigen Granitbrocken unter meinen Sohlen.
Und als die Schnitter das Korn mähten, ging ich wieder
zum Schuhmacher.
„Zu früh! Noch nicht dazugekommen! Sehen Sie sich
diesen Berg Arbeit an!" walzte mich der Meister nieder.
„Und an Ersätzsohlen ist gar nicht mehr zu denken! Ich
werde sehen, was sich in Holzsohlen machen läßt."
, Ausgezeichnet", sagte ich-.
„Und bis in drei Monaten", fügte der Meister hinzu.
Ich ließ, wiederum nicht ungeschickt, meine wirklich
letzte Aktive, Marke ,Arabis', auf den Tisch zwischen
Ahle und Pech gleiten.
„Schauen Sie in acht Wochen wieder vorbei", sagte er.
Dem prächtigen Sommer war ein milder Herbst ge-
folgt. Und als die Bäume sich entlaubten, da wallte ich
wieder zum Meister. Denn es war kalt und naß gewor-
den und ich ging mit meinem einzigen Paar auf deut-
schem Boden . . .
,.Zu früh! Leider, im Augenblick überhaupt unmöglich!"
stöhnte der Meister. „Es ist ein Jammer! Kein Splitter
Holz eingetroffen! Seit Wochen kein Nagel mehr!
Abends kein Arbeiten mehr möglich, weil die letzte
Birne hin ist! Vor vierzehn Tagen ist mir mein Geselle
davon! Und dabei dieser Berg Arbeit! Und außerdem
ist Ihr Reparatur-Anweisungsformular ungültig gewor-
den, weil seit einer Woche neue herausgekommen sind!"
Da zog ich mein zerrissenes Paar Schuhe wieder zurück
und wankte betrübt nach Hause . . .
Aber ich kam doch noch zu Sohlen, durch Zufall, teil-
weise sogar zu Gummisohlen! Ich sägte mir aus den
Seitenwänden der Kaffeemühle meiner Frau — denn
wer braucht heute noch eine Kaffeemühle — ein Paar
Sohlen und klebte sie auf. Unglücklicherweise befand
sich in der rechten Sohle ein Ast, der natürlich schon
beim ersten Gehversuch aussprang. Aber der kleine
Schaden war schnell behoben: ich preßte Kaugummi
hinein. Sehr dauerhaft und wasserdicht!
Ich gehe heute noch darauf!
/. Dünzl
Tvian tauscht
SVur selten ist der Mensch zufrieden
Ttlit dem, was ihm von Qott besebieden.
Des andern Sachen dich berauschen —
Ob Iran, ob Lackschuh, du willst tauschen.
Wohin man blickt, wohin man lauscht-.
1\\an tauscht.
"Was du nicht hast, das hab'n die andern,
Ringlein, Ringlein, du mußt wandern,
Tür ,,Lebenswicht'ges" wird's verscheuert,
Tauscht,,schwarz", man tauscht „zentralgesteuert",
"Wie ,{Hans im Qlück"-, vom Jauscb berauscht,
'Man tauscht.
"Man tauscht beut' nach der "Wilden Bräuche,
lauscht dicke gegen dünne Bäuche,
Wir tauschten frieden gegen Krieg,
Die Niederlage für den Sieg,
Weil wir den Reden, aufgebauscht-.
Qelauscbt. Xurt Leubuscher
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Der Simpl
Titel
Titel/Objekt
"... Die Unbeschädigten"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 1.1946, Nr. 11, S. 131.
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg