Einführung
Literaturgeschichtliche Einordnung
Die Vie de saint Grégoire ist ein bedeutender Text der altfranzösischen Literatur. Diese um 1160 verfasste Vita (Burgio 1993, S. cclxii) ist nicht zu verwechseln mit der Vie de saint Grégoire le Grand, die Bruder Angier, Mitglied der Gemeinschaft von St. Friedeswide in England und Autor des Dialogue de saint Grégoire, im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts aus der lateinischen Version des Jean Diacre übertrug. Der Text von Frère Angier wurde von Paul Meyer nach der Handschrift der Bibliothèque nationale de France, fonds français 24766, herausgegeben (siehe Romania, 12, 1883, S. 145-208).
Die Geschichte, die unter dem Titel Vie de saint Grégoire oder Vie du pape Grégoire bekannt ist, war im Mittelalter ein großer Erfolg, wie die Anzahl der erhaltenen Handschriften und die zahlreichen Bearbeitungen in verschiedenen europäischen Sprachen belegen. Die Geschichte ist gewiss sehr einprägsam. Sie erzählt, wie Grégoire, der aus einer inzestuösen Beziehung zwischen einem Bruder und einer Schwester hervorgeht, nach seiner Geburt von seiner Mutter in einem Boot auf dem Meer ausgesetzt wird. In seiner Wiege liegen unter einem Seidentuch ein Täfelchen, auf dem die Umstände seiner Geburt erklärt werden, eine Bitte an denjenigen, der ihn finde, ihn zu erziehen und auszubilden, sowie Gold und Silber. Von Seeleuten aufgefunden und gerettet, wird der Neugeborene zum Abt eines Klosters gebracht, der es einer Fischerfamilie anvertraut. Als der Junge später erfährt, dass er nicht ihr rechtmäßiger Sohn ist, verlässt er das Land, wird Ritter und befreit in einem heftigen Kampf das Land einer Dame, die nach dem Tod ihres Bruders, der zum Heiligen Grab pilgerte, zur Gräfin geworden ist und nun von den Begehrlichkeiten und Forderungen eines römischen Herzogs geplagt wird. Die Dame, die ihm als Belohnung für seine Heldentat ihr Königreich und ihre Hand anbietet, ist jedoch seine eigene Mutter. Nachdem die Ehe vollzogen ist, entdeckt diese die Tafel, die ihr Sohn aufbewahrt hatte, und erklärt ihm seine Herkunft. Um für diese doppelte Sünde zu büßen, verbannt sich Grégoire auf das offene Meer und lässt sich von einem Fischer auf einen Felsen bringen und dort anketten; den Schlüssel für die Fessel wirft der Fischer ins Meer. Nachdem er siebzehn Jahre lang eine lange und außergewöhnliche Buße erduldet hat, vergibt Gott selbst dem Sünder sein Verbrechen. Als der Papst stirbt, erfahren die versammelten Geistlichen von einem Engel, dass der zukünftige Prälat Grégoire heißt und auf einem Felsen im Meer lebt. Die Gesandten aus Rom machen sich auf die Suche nach ihm und werden von einem Fischer beherbergt, der ihnen zum Abendessen einen Fisch anbietet, in dessen Bauch er den Schlüssel findet, den er selbst ins Meer geworfen hatte. Alle begeben sich zum Felsen und bringen Grégoire nach Rom, wo er aufgrund seiner großen Heiligkeit, die durch Wunder gekrönt wird, auf den päpstlichen Thron erhoben wird.
Der Ursprung der Erzählung liegt im Dunkeln. Während alle volkssprachigen Heiligenleben aus sicher identifizierten lateinischen Texten übertragen und für ein nicht lesefähiges Publikum angepasst wurden, konnte kein lateinischer Hypotext als Quelle für die Vie de saint Grégoire ausgemacht werden. Es gibt zwar eine lateinische Vita, doch diese ist später als die romanischen Versionen entstanden. Es wurde argumentiert, dass es sich um eine östliche, griechisch-byzantinische Quelle gehandelt haben könnte, die über die Kreuzzüge im Westen bekannt wurde. Diese These wird durch die Inzest-Thematik gestützt, da die Figur des Ödipus über den Austausch mit dem vorderen Orient bekannt geworden sein muss. Es ist in der Tat bemerkenswert, dass zahlreiche Texte, die ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bis zur zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfasst wurden, das Thema Inzest behandeln: Lais wie Les deux amants von Marie de France, Romane über Mordred, dem inzestuösen Sohn des Königs Artus, oder auch Exempel.
Der Rückgriff auf die Inzestthematik ist jedoch wahrscheinlich weniger auf die Verbreitung der Ödipus-Figur als auf die der Judas-Figur zurückzuführen. Obwohl es schwierig ist, einen möglichen Einfluss in die eine oder andere Richtung sicherzustellen, kann festgehalten werden, dass sich die Verräterlegende aus der Heiligen Schrift und die Gregoriuslegende im selben Zeitraum entwickelten. Beide wurden weit verbreitet. Von Judas' Leben gibt es circa 42 lateinische Fassungen, von denen eine in die zwischen 1261 und 1266 entstandene Legenda Aurea des Jacobus de Voragine aufgenommen wurde, sowie zahlreiche volkssprachige Fassungen. Und unabhängig von der Fassung gibt es zahlreiche Analogien zur Vie de saint Grégoire. Judas, der Sohn eines Bruders und einer Schwester, wird von seinen Eltern wie Moses in einem Korb im Meer ausgesetzt. Später wird er von der Königin der Insel Skarioth aufgenommen und an der Seite eines Adoptivbruders aufgezogen, den er aus Eifersucht tötet. Nachdem er in den Dienst des Pilatus getreten ist, ermordet er seinen Vater, dem er angeblich Früchte gestohlen hat, und heiratet unwissentlich seine Mutter. Doch schließlich kommt die Wahrheit ans Licht und er tritt reumütig in den Dienst Jesu. Die Erzählung entspricht dann der der Evangelien, wenn auch mit einigen Variationen.
Zwei Hauptmotive verbinden die Schicksale der beiden Figuren: das der Aussetzung des Säuglings im Meer und das des unfreiwilligen Inzests zwischen dem Sohn und seiner Mutter. Die jeweiligen Wege der beiden Figuren zeugen jedoch von einer unterschiedlichen „Natur“ jedes Einzelnen. Grégoire wird von einem Fischer erzogen und ist, wie es im Text heißt, „demütig, fromm und sanftmütig“. Judas hingegen, der von einem Königspaar erzogen wird, ist eifersüchtig und gewalttätig. Als Grégoire erfährt, dass er ein Findelkind ist, lässt er sich zum Ritter schlagen, um für die Schuld seiner Eltern zu büßen; als Judas erfährt, dass er adoptiert wurde, begeht er seinen ersten Mord. Die Buße für die Aufdeckung des Inzests verbindet Judas und Grégoire: Der eine stellt sich in den Dienst Christi, der andere kettet sich siebzehn Jahre lang an einen Felsen. Doch während der erste bis zur Verzweiflung immer wieder in die Sünde zurückfällt, wird der zweite seine Buße vollenden, bis er zum Papst ernannt wird.
Über den Vergleich mit Ödipus und Judas hinaus sei darauf hingewiesen, dass es auch andere Legenden über inzestuöse Heilige gibt, die den Erfolg des Themas im Mittelalter bezeugen. Anne Lafran (2014) weist darauf hin, dass ein mögliches Vorbild für die Vie de saint Grégoire die Vita des Heiligen Metron sein könnte, der vor der Kirche San Vitale in Verona an einen Stein gekettet wird, um seinen Inzest zu sühnen, und der wie Grégoire den Schlüssel zu seiner Kette in den Fluss wirft, den man im Bauch eines Fisches wiederfindet. Auch andere Heilige erfahren, in den Worten Anne Lafrans, „ab dem 13. Jahrhundert einen ödipalen Verlauf: St. Andreas von Kreta, St. Alban oder St. Brice, der Nachfolger des heiligen Martin von Tours.“
Bekannt wurde die Legende vor allem durch Hartmanns von Aue Gregorius (ca. 1180–1190), bevor später weitere Fassungen mit gleicher Erzählstruktur entstanden, von denen eine in die Gesta romanorum des 14. Jahrhunderts aufgenommen wurde. Die Geschichte von Grégoire wurde von Aarne-Thompson in The Types of the Folktale als Märchentypus 933 klassifiziert. Eine bekannte Fassung desselben ist das bretonische Märchen mit dem Titel Le frère, la sœur et leur fils le pape de Rome, herausgegeben von F. M. Luzel in den Légendes chrétiennes de Basse-Bretagne (Paris 1881, Bd. II, S. 18–29). Thomas Mann ließ sich für seinem Roman Der Auserwählte, der Anfang der 1950er Jahre erschien, von Hartmanns Text inspirieren.
Handschriftliche Überlieferung und frühere Editionen
Die in paarweise gereimten Achtsilbern um die Mitte des 12. Jahrhunderts verfasste Vie de sainte Grégoire ist in sechs vollständigen Handschriften überliefert, deren Entstehung vom Beginn des 13. bis zum Ende des 15. Jahrhundert reicht, und in einem Fragment aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert. Vom Text her lassen sich diese Textzeugen in die zwei „Familien“ A und B unterteilen.
1857 edierte Victor Luzarche, der nur die beiden Handschriften A1 und B1 kannte, erstere unter dem Titel Vie du pape Grégoire le Grand und folgte damit einer falschen Identifizierung des Grégoire aus der Legende, die auf einen Fehler in der Handschrift A1 zurückzuführen ist, wo der Protagonist als Schöpfer des gregorianischen Gesangs angegeben wird: C'est uns de ceauz qui chant trova (V. 2721). Später wurden vier weitere Textzeugen entdeckt, es ist aber nicht möglich gewesen, die beiden Familien auf einen gemeinsamen Archetypus zurückzuführen. Daher zog es Mario Roques 1956 vor, dem Vorschlag Gerd Krauses folgend zwischen zwei unabhängigen Redaktionen zu unterscheiden.
Diese Option wählte auch Hendrik B. Sol, der 1977 eine Edition der sechs vollständigen Handschriften der Vie du Pape Saint Grégoire in paargereimten Achtsilbern vorlegte; der Titel vermied damit jegliche Verwechselung mit der Vie de saint Grégoire le Grand, die von Bruder Angier übertragen wurde. Der Anregung von Mario Roques folgend verzichtete Sol darauf, einen gemeinsamen Vorfahren von A und B zu rekonstruieren, und erstellte stattdessen zwei kritische Texte: einen auf der Grundlage der Familie A mit A1, A2 und A3, und einen auf der Grundlage der Familie B mit B1, B2 und B3. Daraufhin beschloss er, eine diplomatische und synoptische Edition der sechs achtsilbigen Fassungen anzubieten, zu der die parallelen kritischen Editionen der ältesten Textzeugen A1 und B1 hinzukommen. A1 soll aus dem südwestlichen Teil des altfranzösischen Sprachraumes stammen, und B1 (laut Sol die älteste Fassung) aus England. Außerdem weist er durch die typographische Darstellung der Verse eindeutig auf die Achtergruppierung hin, die Roques als metrisches Merkmal von B1 auffasste, und zeigt damit, dass dieses Merkmal auch in den anderen Textzeugen zu finden ist. 1993 veröffentlichte Eugenio Burgio eine kritische Edition der durch die Familie B vertretenen Redaktion.
Im zweiten Teil seines Buchs ediert Sol weitere französische Fassungen der Legende: die 1887 von Carl Fant erstmals veröffentlichte Fassung in Alexandrinern, die wahrscheinlich aus dem 13. Jahrhundert stammt und in einer einzigen Handschrift aus dem 15. Jahrhundert überliefert ist; sowie einen kurzen Prosatext, der in einer ebenfalls einzigen Handschrift überliefert ist, die in der Laurenziana in Florenz unter der Signatur 141 der Sammlung Medico-Palatina aufbewahrt ist: ein Codex, der eine umfangreiche Sammlung von Heiligenleben enthält, die in der Reihenfolge des Kirchenjahres angeordnet sind und von denen die meisten aus der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine übertragen wurden. Paul Meyer hatte diesen Text als „Appendix“ zu der Notiz ediert, die er der Handschrift widmete (s. Romania 33, 1904, S. 1–96, Edition auf S. 42–46). Laut Meyer ist die Prosaerzählung eine reduzierte Form der Fassungen A1 und B1, von denen sie nur die Hauptfakten beibehält. Er weist jedoch darauf hin, dass es neben den zahlreichen Varianten, deren Funktion meist darin besteht, die Erzählung zu vereinfachen, auch größere Unterschiede gibt, darunter die Tatsache, dass Gregor den Inzest mit der Mutter nicht vollzieht und seine Herkunft noch am Tag der Hochzeitsfeier entdeckt. Daher nimmt Meyer an, dass der Prosaautor einer anderen Vorlage als dem paargereimten Text folgte, ohne jedoch die Quelle zu entdecken. „Das verlorene Original“, so schreibt er, „muss eine lateinische Legende gewesen sein. Ich halte es für wahrscheinlich, dass aus dieser Legende unabhängig voneinander das französische Gedicht und die Prosafassung entstanden sind. Letztere, die allerdings sicher verkürzt ist, würde die ursprüngliche Form besser darstellen als das Gedicht, dessen Autor, der sich freie Hand ließ, seinen Stoff anscheinend durchaus entwickelt́ und ausgeschmückt hat.“ (Paul Meyer, zitierte Ausgabe, S. 41–42). Es zeigt sich also, dass alle Versionen des Lebens von Papst Gregor unterschiedliche Traditionen aufweisen, wie Sol (zitierte Aufl., S. 373–376) feststellte.
Sol hingegen hat die Fassung der Legende nicht herausgegeben, die in der Sammlung unter dem Titel Le Violier des Histoires romaines, einer französischen Übersetzung der Gesta Romanorum (Hrsg. Oesterley, 1872) zu finden ist. Die französische Erzählung findet sich im Kapitel 79 der Edition von M. G. Brunet aus dem Jahr 1858.