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Kladderadatsch in Paris: Humor und Satyre auf die Industrie-Ausstellung — Berlin, 1-5.1855

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https://doi.org/10.11588/diglit.2326#0029
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29

Hirsch's empfilldsaille Reise
nach
^ ll l' l 8
oder:
Wenn Leute Geld haben!

Ein socialer Roman aus denTagen derPariserWeltausstellung.

Fiinftes Capitel.
Hoch stand schon die Sonne am Himmel und vergoldete mit ihrem
glänzenden aber werthlosen Scheine die Fensterscheiben des Hotsl Violod
in der HsaA-s Violet, als dcr Commercienrath durch das Geräusch einiger
Stimmen aus seinem ebenso langen als tiefen Schlnmmer geweckt wurde.
Wäre es Jhnen vielleicht gefällig aufzustehen? Die Herren dort wollen
spielen nnd warten bereits seit einer Stunde, daß das Billard frei werden soll.
Mit diesen Worten wandte der Kellner Franz sich an seinen Gast und
Landsmann und wies dabei auf zwei ziemlich.elegant gekteidete Herren, welche
in der Nähe standen und, in Ermangelnng einer anderen Beschäftigung, lächelnd
die Quenes in ihren Händeu bereits znm siebenten oder achten Male mit fri-
scher Kreide bestrichen.
Wie? Was? Das Billard frei? Mein Gott, wo bin ich denn? Ach so
Ja, ja, es ist richtig! — so rief der noch schlaftrnnkene Commercienrath, indem
er sich den Schlummer aus den Angen zu reiben snchte, wobei die Bilder der
vergangenen Nacht, eins nach dem andern, erst dnnkel nnd dann in immer
schreckensvollerer Klarheit in seiner Erinnerung anftanchten.
Ja, ja, es ist richtig! Es war kein Tranm! Entschnldigen Sie, meine
Herren; sogleich werde ich Jhnen Platz machen!
Nach allen Seiten um sich blickend, machte er Anstalt, sich nnd seine Neise-
tasche von ihrem gemeinschaftlichen Lager zu erheben, als einer der beiden Her-
ren ihm znrief: Aber, mein Herr, nehmen Sie sich in Acht, daß Sie die Ca-
roline nicht beschädigen! Sie zertreten sie ja mit dcm Fnße!
Was? — rief erbleichend der sonst so muthige Berliner — Sie wissen
schon? Sogar den Namen? Caroline? Also ein Mädchen ist es?
Nein, nein! — drängte sich Franz, ihn beruhigend, dazwischen — der
Herr meint ja bloß unsere Caroline, die rothe Caroline mit dem weißen
Kreuz, die die ganze Nacht auf dem Billard an Jhrer Seite gelegen hat! Jch
hatte vergessen sie fortzulegen, und Sie waren so schrecklich müde, daß ich Sie
um so einen lumpigen Ball nicht erst stören wollte.
Ach so! — entgegnete aufathmend der Commercienrath. Wie eine Cent-
nerlast fiel es ihm von der Brnst, und schon nach wenigen Angenblicken war er
so weit beruhigt nnd Herr seiner selbst, daß seine zitternden Arme die Hoffnung
hegen durften, dem Schlottern seiner Beine mit der Zeit ein Ende gemacht zu
sehen.
Doch nicht lange war es seinem Herzen vergönnt, das Asyl seiner kaum
wiederkehrendcn Ruhe zn sein. Kanm war er seiner Sinne mächtig genug,
um die ihn umgebenden Gegenstände und Personen zu unterscheiden, als er iu
dem einen der beiden vermeintlich harmlosen Billardspieler den Herren mit dem
Notizbnch vom Corridor des Hotsl cko 1u ruo cke Hivoli und zugleich den
sonderbaren Theilnehmer seiner Unterhaltung von gestern Abend erkannte.
Sie sind mir von gestern Abend noch eine Erklärnng schuldig — redete
der Fremde den Commercienrath mit halblanter Snmme an, indem er ihm
möglichst nahe zu treten suchte und ihn mit durchbohrenden Blicken unheimlich
fixirte.
Jch Jhnen? — erwiderte, einen Schritt zurücktretend, der Angeredete —
Jm Gegentheil! Wenn ich nicht irre, wollten Sie mir in Betreff des Verfah-
rens bei gefnndenen Sachen noch einige-
Verzeihen Sie, mein Herr; die Ausklärungen, welche ich Jhnen in dieser
Beziehung zn geben habe, werden Sie zeitig genug erhalten. Dieselben wer-
den, wie mir scheint, überwiegend thatsächlicher Natur sein —
Aber, mein Herr!-

Unterbrechen Sie mich nicht! — fnhr der Fremde fort, und zwar in einem
Tone, der aus dem Moll der gesellschaftlichen Unterhaltung in immer ent-
schiedeneren Modulationen zu der Durtonart amtlicher Necherchen überzu-
gehen schien. — Unterbrechen Sie mich nicht, oder doch nur, indem Sie offen
und wahrheitsgetreu auf die Fragen antworten, welche ich an Sie richten zu
müssen leider in der Lage bin. Jch bin Beamter der Criminal- und
der Fremdenpolizei.
Der Commercienrath erblaßte.
Zu rechter Zeit nnd am rechten Orte werde ich mich Jhnen als solcher
legitimiren.
Dcr Commercienrath zitterte, und: Bitte, das hat gar keine Eile!
— waren die einzigen Worte, welche heranszustammeln er seine ganze Energie
zusammennehmen mußte.
Sie hatten die Güte — fnhr der bedenkliche Vertreter der Executivgewalt
fort — mir gestern Abend einige Andeutungen über einen von Jhnen gemach-
ten Fnnd zu geben.
Sie irren, mein Herr! Nicht Andentnngen, sondern, im Gegentheil, Er-
kundigungen waren es-
Das ist für uns dasselbe. Streiten wir nicht um Worte! Wozu Weit-
läufigkeiten und Umschweise? Mein Herr! Die Geschichte Ihres sogenannten
Fundes ist mir ebenso bekannt als der eigenthümliche Jnhalt Jhrer Neise-
tasche. *
Kanm seiner Sinne mächtig, stotterte der Commercienrath: Unmöglich!
Woher sollten Sie wissen, was außer mir noch Niemand weiß?
Niemand, außer Jhnen und — Jhrem Landsmanne, dem Kellner
Franz, dcm Sie Jhr Vertrauen-
Ha! Jetzt ahne ich — kreischte ein Schrei der Entrüstung aus der Brust
desVerzweifelten hervor — Also „Franz heißt die Canaille?" wie immer
mein Frennd, der Räuber Schweizer zu sagen Pflegte!
Sie scheinen recht empsehlende Bekanntschaften zu haben!
Entschuldigen Sie! Jch wollte sagen: wie schon mein alter Freund Schil-
ler in den „Räubern" den Schweizer sagen läßt.
Keine unnützen Entschuldigungen! Sparen Sie Jhre leeren Ausflüchte,
mein Herr! Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, was
dn verdienst! Schon gleich bei Jhrer Ankunft in Paris sprachen Sie an der
Thür des Hotsl cke 1a rus cke Uivoli von „Jhrem Freunde Victor
Hugo." Diese Freundschaft genügte vollständig, um Sie von diesem Angen-
blick an znm Gegenstande der sorgfältigsten polizeilichen Beobachtnngen zu machen.
Aber ich kenne ja Herrn Victor Hugo gar nicht! Jch habe ihn nie
in meinem Leben gesehen und noch weniger jemals etwas von ihm gelesen!
Schweigen Sie, mein Herr! Jn Jhrem früheren Quartier beliebten Sie
ferner dieHerren Schiller, von Goethe und Gerlach theils in Gesprächen
mit Jhren Zimmergenoffen, theils im Selbstgespräch „Jhre Freunde" zu
nennen!
Mein Gott, auch das wissen Sie?
Wir wissen noch viel mehr! Anf dem Sopha träumten Sie von„Jhrem
Freund Emile Girardin!" Jst das wahr oder nicht?
Ja, es ist allerdings wahr. Aber wenn ich Jhnen versichere, daß diese
Bezeichnnng bloß so eine alberne Gewohnheit von mir ist; wenn ich Jhnen
mein Ehrenwort daranf gebe, daß ich keinen Einzigen von allen diesen Herren
auch nur im Entferntesten kenne; wenn ich Jhnen schwöre, daß-
So würden wir glauben, daß Sie, um einigen Unannehmlichkeiten aus
dem Wege zu gehen, Jhre Feigheit so weit treiben, im Angenblicke der Gefahr
selbst Jhre beßten Freunde zu verleugnen. Sie sehen, mein Herr, die Pariser
Polizei ist so wohl nnterrichtet, daß alles Leugnen, weit entfernt Ihnen etwas
zu helfen, nnr zur Vermehrung und Verlängerung Jhrer unangenehmen Lage
führen kann. Also nochmals, mein Herr, gestehen Sie eine Handlnng, welche
Sie nicht mehr lengnen können, uud an deren Aufklärung vielleicht die wich-
tigsten Folgen für die Entwickelnng der politischen und socialen Verhältnisse
nicht bloß Frankreichs, sondern ganz Europa's geknüpft sind.
Was? Wichtige Folgen? Entwickelung? Politisches Frankreich? Sociales
Enropa? O Gott! Wie wird mir? Halten Sie mich fest! — Der Commercien-
rath begann zu taumeln.
Seien Sie unbesorgt, mein Herr! Jch halte Sie schon fest! — fuhr
der Polizist mit unerschütterlicher Nuhe fort. — Ja, mein Herr, es handelt sich
um ein wichtiges, vielleicht folgenschwangeres Ereigniß. Es fehlt uns ein
Kind! Sie haben eins!
Ach, in Berlin eine ganze Menge!
Wir brauchen hier nur eins, und zwar wahrscheinlich dasjenige, welches
so eben in Jhrer Reisetasche-
Ein aus dem Jnnern der, wie eS schien, sehr akustisch gebauten Reisetasche
ertönendes Geschrei machte alles weitere Lengnen unnütz, indem es die Anwe-
senheit des kleinen Oorpns ckelieti ebenso unleugbar verrieth, als den in den
kleinen Eingeweiden desselben wüthenden Hnnger.
 
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