DER KREIS ALS MUTTERFORM
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denn auch in der neolithischen Kunst anzutreffen; vermehren sich dagegen diese
Randlinien, nähern sie sich der Mitte der Platte, so geht ihr Charakter als Rand-
ornament verloren: es entsteht das zentrale Kreisornament. Es gibt aber noch
weitere Tatsachen, die zu der Annahme führen, daß es der Kreis ist, der am An-
fang der neuen Formentwicklung steht. Das Spiralornament der zweiten Mon-
telius-Stufe scheint nichts anderes als ein modifiziertes Kreisornament zu sein.
Betrachten wir das Spiralmuster an den reich verzierten Schwertgriffen, Brust-
platten, Halskragen usw., so finden wir, daß die Spiralwindungen so eng zu-
sammengelegt sind, daß der Eindruck von gemusterten, spiralgefüllten Kreisen
entsteht, die isoliert nebeneinander stehen und höchstens durch eine Doppel-
linie, zumeist nur durch eine einzelne Linie oder Punktreihe verbunden werden:
es sind an eine Schnur gesteckte einzelne Perlen, nicht eine einzige, sich ein-
und ausrollende Linie (Taf. XI). Ganz allgemein ist daneben besonders im Nor-
den die Zwischenform der durch eine Tangente verbundenen konzentrischen
Kreise (Abb. 22 c, d). Diese Betrachtung der entwickelten Ornamentik der M. II-
Stufe scheint somit zu bestätigen, was sich bei der Verzierung der Schwertgriffe
zeigte: nicht die Spirale, sondern der Kreis, die einfachste Form der
gebogenen Linie — ohne Krümmungsänderung —, ist als die Mutter-
form der bronzezeitlich en Ornamentik zu betrachten. Diese, durch
die gesamte Bronzezeit beibehaltenen Kreise oder konzentrischen
Kreise sind die Samenkörner, aus denen sich die Kunstform dieser
zweiten Periode der altnordischen Kunst entwickeln sollte.
Diese Tatsache, daß wir im Kreismotiv die Grund- und Kernform der früh-
bronzezeitlichen Ornamentik vor uns haben, und daß wir das Entstehen dieses
Kreises in einzelnen Fällen beobachten können, ist wichtig, weil sie, mag der
entscheidende Schritt nun im Norden, in Süddeutschland oder auch in Ober-
italien erfolgt sein, auf jeden Fall die Selbständigkeit dieser Kunst sowohl
gegenüber der mykenischen als auch der bandkeramischen Spiralornamentik
aufs neue bestätigt.
Zugleich aber beleuchtet nun das Kreismotiv als Grundform der bronzezeit-
lichen Omamententwicklung den fundamentalen Gegensatz zum steinzeitlichen
Kunstprinzip. Denn fragen wir uns, was in den beiden Fällen, wo die Entstehung
des Kreisornaments zu beobachten war, zunächst geschah, so ist zu bemerken,
daß die Randverzierung der runden Platte oder die Umsäumung der Nietköpfe
trotz des Auftretens der zum Kreis geschlossenen Punkt- oder Strichreihe noch
durchaus traditionell war und als Betonung einer gegebenen Körperform dem
ursprünglichen Wesen der ornamentalen Kunst entsprach. Das Erscheinen der
gebogenen Linie war also wie auch bei der Verzierung der frühesten Schwert-
klingen gewissermaßen etwas Zufälliges; auch die Randlinie der Steinzeitgefäße
war schließlich ein Kreis, nur kam sie als solcher nicht zum Bewußtsein. Was
sich nun aber vollzieht, ist etwas ganz neues, ja für das neolithische Empfinden
Unerhörtes. Denn mit der Loslösung des Saumes von den Nietköpfen hörte
auch jede Beziehung zum Träger auf: von einem Randomament konnte keine
Rede mehr sein, die Emanzipation vom Träger, die schon in den späten Stein-
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denn auch in der neolithischen Kunst anzutreffen; vermehren sich dagegen diese
Randlinien, nähern sie sich der Mitte der Platte, so geht ihr Charakter als Rand-
ornament verloren: es entsteht das zentrale Kreisornament. Es gibt aber noch
weitere Tatsachen, die zu der Annahme führen, daß es der Kreis ist, der am An-
fang der neuen Formentwicklung steht. Das Spiralornament der zweiten Mon-
telius-Stufe scheint nichts anderes als ein modifiziertes Kreisornament zu sein.
Betrachten wir das Spiralmuster an den reich verzierten Schwertgriffen, Brust-
platten, Halskragen usw., so finden wir, daß die Spiralwindungen so eng zu-
sammengelegt sind, daß der Eindruck von gemusterten, spiralgefüllten Kreisen
entsteht, die isoliert nebeneinander stehen und höchstens durch eine Doppel-
linie, zumeist nur durch eine einzelne Linie oder Punktreihe verbunden werden:
es sind an eine Schnur gesteckte einzelne Perlen, nicht eine einzige, sich ein-
und ausrollende Linie (Taf. XI). Ganz allgemein ist daneben besonders im Nor-
den die Zwischenform der durch eine Tangente verbundenen konzentrischen
Kreise (Abb. 22 c, d). Diese Betrachtung der entwickelten Ornamentik der M. II-
Stufe scheint somit zu bestätigen, was sich bei der Verzierung der Schwertgriffe
zeigte: nicht die Spirale, sondern der Kreis, die einfachste Form der
gebogenen Linie — ohne Krümmungsänderung —, ist als die Mutter-
form der bronzezeitlich en Ornamentik zu betrachten. Diese, durch
die gesamte Bronzezeit beibehaltenen Kreise oder konzentrischen
Kreise sind die Samenkörner, aus denen sich die Kunstform dieser
zweiten Periode der altnordischen Kunst entwickeln sollte.
Diese Tatsache, daß wir im Kreismotiv die Grund- und Kernform der früh-
bronzezeitlichen Ornamentik vor uns haben, und daß wir das Entstehen dieses
Kreises in einzelnen Fällen beobachten können, ist wichtig, weil sie, mag der
entscheidende Schritt nun im Norden, in Süddeutschland oder auch in Ober-
italien erfolgt sein, auf jeden Fall die Selbständigkeit dieser Kunst sowohl
gegenüber der mykenischen als auch der bandkeramischen Spiralornamentik
aufs neue bestätigt.
Zugleich aber beleuchtet nun das Kreismotiv als Grundform der bronzezeit-
lichen Omamententwicklung den fundamentalen Gegensatz zum steinzeitlichen
Kunstprinzip. Denn fragen wir uns, was in den beiden Fällen, wo die Entstehung
des Kreisornaments zu beobachten war, zunächst geschah, so ist zu bemerken,
daß die Randverzierung der runden Platte oder die Umsäumung der Nietköpfe
trotz des Auftretens der zum Kreis geschlossenen Punkt- oder Strichreihe noch
durchaus traditionell war und als Betonung einer gegebenen Körperform dem
ursprünglichen Wesen der ornamentalen Kunst entsprach. Das Erscheinen der
gebogenen Linie war also wie auch bei der Verzierung der frühesten Schwert-
klingen gewissermaßen etwas Zufälliges; auch die Randlinie der Steinzeitgefäße
war schließlich ein Kreis, nur kam sie als solcher nicht zum Bewußtsein. Was
sich nun aber vollzieht, ist etwas ganz neues, ja für das neolithische Empfinden
Unerhörtes. Denn mit der Loslösung des Saumes von den Nietköpfen hörte
auch jede Beziehung zum Träger auf: von einem Randomament konnte keine
Rede mehr sein, die Emanzipation vom Träger, die schon in den späten Stein-