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ERSTES KAPITEL

VOM ANFANG DER KUNST
WESEN UND VORAUSSETZUNGEN
DER ORNAMENTALEN KUNST

Die Bezeichnung „altnordische Kunst“ verlangt eine Erläuterung. Wir
verstehen hier unter altnordischer Kunst nicht bloß eine Summe von
Kunsterscheinungen, die zur Vereinfachung der Untersuchung einem
willkürlich begrenzten Gebiet entnommen werden, sondern eine eigenartige und
inhaltlich genau bestimmbare Kunstübung, die sich innerhalb gewisser räum-
licher und zeitlicher Grenzen als eine geschlossene Epoche der künstlerischen
Entwicklung darbietet. Die genaue inhaltliche, räumliche und zeitliche Bestim-
mung dieser Kunst wird im Laufe dieser Darstellung erfolgen. Zur vorläufigen
Orientierung sei nur bemerkt, daß schon die prähistorische Tatsachenforschung
eine nordeuropäische Kulturprovinz unterscheidet, die Skandinavien und Nord-
deutschland ungefähr bis zum Breitengrad der Rheinmündungumfaßt, und deren
Erzeugnisse sich typologisch und künstlerisch deutlich von denen der übrigen
europäischen Kulturkreise unterscheiden. Unsere Untersuchung bezieht sich in
erster Linie auf die Kunst dieses nordischen Kerngebiets, obwohl die mannig-
fache Berührung mit dem übrigen Europa unsere Aufmerksamkeit auch auf die
mittel- und zum Teil auch auf die südeuropäische Kunst hinlenken wird. Die
zeitliche Grenze bildet nach oben der Anfang der jüngeren Steinzeit mit dem
Auftreten der Töpferei und der ersten primitiven Verzierung der Tongefäße,
nach unten der Eintritt in die neue Kulturepoche des Mittelalters mit der Herr-
schaft der Kirche und der kirchlich-christlichen Kunst. Damit ist schon ange-
geben, daß ein genau datierbarer Abschluß für die altnordische Kunst nicht
existiert. Mit ihrer Religion, ihrer wirtschaftlichen und politischen Gliederung,
ihrer Kunst zieht die alte Kultur sich Schritt für Schritt vor der neuen, in man-
cher Hinsicht diametral entgegengesetzten kirchlich-mittelalterlichen Welt zu-
rück, überdauert in ihren entlegenen Stellungen (Island!) das erste nachchrist-
liche Jahrtausend; ja, sie setzt sich in manchmal überraschend reiner Form in
gewissen, auf der alten Kulturstufe stehengebliebenen Volksschichten bis auf

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