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PSEUDO-ORNAMENTIK IN DER ÄLTEREN STEINZEIT
Bedürfnis, das tektonische Gefüge des Trägers zu verstehen und zu interpre-
tieren. Anders gesagt: aus der figuralen Darstellung kann, solange nicht der
ausgesprochene Wille zum Objekt hinzutritt, logischerweise nie ein geome-
trisches Gerätornament werden.
Pseudo-Ornamentik in der älteren Steinzeit. Den besten Beweis für die
Richtigkeit dieses Satzes liefert ein Blick auf die paläolithische Kunst selber
und auf die vermeintlichen „Ornamente", zu denen die Auflösung dieser Kunst
geführt hat. Betrachten wir etwa die eigentümliche Zeichnung auf einem Mammut-
zahn aus Kijew (Abb. 2 a), so zeigt sich, daß diese scheinbar willkürlichen Linea-
mente, welchen Inhalt sie auch haben mögen, auf jeden Fall nichts mit Orna-
ment zu tun haben. Sie sind zwar selbstverständlich auf einem Gegenstand
gezeichnet, aber sie bezeichnen diesen Gegenstand nicht, erhalten von ihm
nicht ihre Gestalt und gesetzmäßige Anordnung. Das Fehlen der imitativen
Beziehung zurNatur bedeutet hier noch keineswegs das Vorhandensein
einer dekorativen Beziehung zum Träger. Von diesen öfters in der
paläolithischen Kunst anzutreffenden, regellosen Konfigurationen führt keine
Brücke zur streng tektonischen Ornamentik der jüngeren Steinzeit, weil ihnen
die Seele des Ornaments grundsätzlich fehlt.
Eine zweite Formgruppe, für die als Beispiel eine Elfenbeinschnitzerei aus
Arudy (Basses-Pyrenees) diene (Abb. 2b), ist noch lehrreicher, weil sie nach
Verworn die Entstehung des Ornaments aus der zunehmenden Schematisie-
rung der Pflanzendarstellung bezeugen soll. Abgesehen von der Frage, ob zwi-
schen den verschiedenen Gliedern der von Verworn abgebildeten Entwicklungs-
reihe1 überhaupt wohl ein Zusammenhang existiert, ist zu betonen, daß das
erste Glied dieser Reihe, ein nicht stilisierter Pflanzenstengel mit regelmäßig
angeordneten, schmalen, abstehenden Blättern, in viel höherem Maße zur Or-
namentierung geeignet wäre als die Schlußformen der Entwicklung, von der
hier Abb. 2b eine Probe gibt. Auch hier ist die formale Beziehungslosigkeit der
geometrischen Motive zum tragenden Gegenstand sofort ersichtlich. Bezeich-
nend scheint das völlige Bedecken der Oberfläche mit phantastischen Formen
und das tiefe Ausgraben des Grundes rings um das Muster. Mit einer begin-
nenden Ornamentik wäre das vollkommen unvereinbar, diese nimmt, wie wir
sehen werden, möglichst Rücksicht auf den ornamentierten Gegenstand und
kann sich mit einer leicht eingeritzten Bezeichnung begnügen; der ziellose Spiel-
trieb, mit dem wir es hier zu tun haben dürften, kennt keine Grenzen, nicht
nach der Breite und nicht nach der Tiefe. Zu diesen, für die Kunst völlig be-
deutungslosen Erscheinungen sind dann besonders auch weitaus die meisten Be-
malungen der kolorierten Kiesel von Mas d’Azil zu rechnen.
Natürlicher Rhythmus. Größeres Interesse für die Frage nach dem Entstehen
des Ornaments bietet eine andere Gruppe von Degenerationserscheinungen. Es
gibt nämlich zahlreiche Beispiele, wo das nachlassende Verständnis oder Inter-
esse für die Naturform in der Tat zu einer Erstarrung und Abkürzung führt, zu
schematischen Formeln, die, wenn sie außerdem in regelmäßiger Reihung auf
i. Max Verworn, Die Anfänge der Kunst. 1909. Fig. 29.
PSEUDO-ORNAMENTIK IN DER ÄLTEREN STEINZEIT
Bedürfnis, das tektonische Gefüge des Trägers zu verstehen und zu interpre-
tieren. Anders gesagt: aus der figuralen Darstellung kann, solange nicht der
ausgesprochene Wille zum Objekt hinzutritt, logischerweise nie ein geome-
trisches Gerätornament werden.
Pseudo-Ornamentik in der älteren Steinzeit. Den besten Beweis für die
Richtigkeit dieses Satzes liefert ein Blick auf die paläolithische Kunst selber
und auf die vermeintlichen „Ornamente", zu denen die Auflösung dieser Kunst
geführt hat. Betrachten wir etwa die eigentümliche Zeichnung auf einem Mammut-
zahn aus Kijew (Abb. 2 a), so zeigt sich, daß diese scheinbar willkürlichen Linea-
mente, welchen Inhalt sie auch haben mögen, auf jeden Fall nichts mit Orna-
ment zu tun haben. Sie sind zwar selbstverständlich auf einem Gegenstand
gezeichnet, aber sie bezeichnen diesen Gegenstand nicht, erhalten von ihm
nicht ihre Gestalt und gesetzmäßige Anordnung. Das Fehlen der imitativen
Beziehung zurNatur bedeutet hier noch keineswegs das Vorhandensein
einer dekorativen Beziehung zum Träger. Von diesen öfters in der
paläolithischen Kunst anzutreffenden, regellosen Konfigurationen führt keine
Brücke zur streng tektonischen Ornamentik der jüngeren Steinzeit, weil ihnen
die Seele des Ornaments grundsätzlich fehlt.
Eine zweite Formgruppe, für die als Beispiel eine Elfenbeinschnitzerei aus
Arudy (Basses-Pyrenees) diene (Abb. 2b), ist noch lehrreicher, weil sie nach
Verworn die Entstehung des Ornaments aus der zunehmenden Schematisie-
rung der Pflanzendarstellung bezeugen soll. Abgesehen von der Frage, ob zwi-
schen den verschiedenen Gliedern der von Verworn abgebildeten Entwicklungs-
reihe1 überhaupt wohl ein Zusammenhang existiert, ist zu betonen, daß das
erste Glied dieser Reihe, ein nicht stilisierter Pflanzenstengel mit regelmäßig
angeordneten, schmalen, abstehenden Blättern, in viel höherem Maße zur Or-
namentierung geeignet wäre als die Schlußformen der Entwicklung, von der
hier Abb. 2b eine Probe gibt. Auch hier ist die formale Beziehungslosigkeit der
geometrischen Motive zum tragenden Gegenstand sofort ersichtlich. Bezeich-
nend scheint das völlige Bedecken der Oberfläche mit phantastischen Formen
und das tiefe Ausgraben des Grundes rings um das Muster. Mit einer begin-
nenden Ornamentik wäre das vollkommen unvereinbar, diese nimmt, wie wir
sehen werden, möglichst Rücksicht auf den ornamentierten Gegenstand und
kann sich mit einer leicht eingeritzten Bezeichnung begnügen; der ziellose Spiel-
trieb, mit dem wir es hier zu tun haben dürften, kennt keine Grenzen, nicht
nach der Breite und nicht nach der Tiefe. Zu diesen, für die Kunst völlig be-
deutungslosen Erscheinungen sind dann besonders auch weitaus die meisten Be-
malungen der kolorierten Kiesel von Mas d’Azil zu rechnen.
Natürlicher Rhythmus. Größeres Interesse für die Frage nach dem Entstehen
des Ornaments bietet eine andere Gruppe von Degenerationserscheinungen. Es
gibt nämlich zahlreiche Beispiele, wo das nachlassende Verständnis oder Inter-
esse für die Naturform in der Tat zu einer Erstarrung und Abkürzung führt, zu
schematischen Formeln, die, wenn sie außerdem in regelmäßiger Reihung auf
i. Max Verworn, Die Anfänge der Kunst. 1909. Fig. 29.