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14 SCHLUSSFOLGERUNGEN
dalenien, wo die Bearbeitung organischer Substanzen ihren Höhepunkt sogar
auf Kosten der Silexindustrie erreichte. Aber schon die beiden ersten Stufen der
Jungpaläolithik haben die Gerätornamentik gekannt. Der Gegenstand in Abb. 5,
bei dem die Fundverhältnisse allerdings ziemlich unklar erscheinen1, stammt
aus dem Solutreen, und sogar aus der Aurignacstufe ist eine gutentwickelte,
zum Teil überraschend weit fortgeschrittene Gerätornamentik bezeugt. Die End-
stufe der Paläolithzeit im Azylien zeigt dagegen nicht nur den endgültigen Ver-
fall der figuralen Kunst, sondern bezeichnenderweise auch den der Gerätorna-
mentik.
Es ist kein Zweifel, daß das Bestehen dieser geometrischen Ornamentik, die
in den Augen der Psychologen doch gewiß als eine „ideoplastische“ Erschei-
nung gelten muß, die Deutung der paläolithischen Kunst als Gesamterschei-
nung erheblich kompliziert. Denn offenbar muß es dann doch möglich gewesen
sein, daß neben der physioplastischen Begabung, d. h. neben dieser vom urzeit-
lichen Instinkt geleiteten Projektion des Naturbildes, die künstlerisch schaf-
fende Phantasie sich in einer besonders gearteten Sphäre betätigte. Hier kommt
es indessen in erster Linie auf die folgenden Schlußfolgerungen an: die figurale
Kunst der Diluvialzeit kann unmöglich die Mutter der geometrischen Orna-
mentik gewesen sein; sollte dieses Ornament noch einer Erklärung bedürfen
und eine Vorstufe besitzen, so müssen diese in einer ganz anderen Richtung ge-
sucht werden, eine Frage, auf die ich unten zurückkomme. Treten aber im spä-
teren Paläolithikum Konvergenzerscheinungen zwischen Ornament und de-
generierter Tierdarstellung auf, so kann die Erklärung nur diese sein, daß der
schon lange vorher, vermutlich im Aurignacien ausgebildete ab-
strakt-ornamentalen Kunstsinn sich dieser nicht mehr lebensfähi-
gen figuralen Kun st bemächtigte und ihre Abbauprodukte zu seinen
eigenen Zwecken verwendete. Und weiter: das Fehlen jeder physioplasti-
schen Begabung in der ausschließlich geometrisch-ornamentalen Kunst der
nordeuropäischen Neolithik könnte an sich noch sehr wohl als das Zeichen einer
fortgeschrittenen geistigen Entwicklung aufgefaßt werden. Dagegen scheint mir
das gleichzeitige Auftreten einer ornamentalen Kunst neben dem paläolithi-
schen Naturalismus und besonders auch der Umstand, daß diese paläolithische
Gerätornamentik weit über die Anfänge des neolithischen Ornaments hinaus-
geht, mit großer Wahrscheinlichkeit darauf zu deuten, daß wir es hier nicht
mit der früheren Stufe einer genetisch zusammenhängenden Ent-
wicklung zu tun haben, sondern mit einer grundverschiedenen, in
anderen Bahnen verlaufenden geistigen Veranlagung. Die Richtig-
keit dieser Schlußfolgerung, die bei der Frage nach der Herkunft der nordeuro-
päischen Rasse von Bedeutung sein muß, soll durch die Schilderung der neo-
lithischen Kunsterscheinungen und der strengen Gesetzmäßigkeit, nach der die
ornamentale Kunstentwicklung sich vollzieht, eine weitere Bestätigung finden.
Das Gesamtbild der paläolithischen Kunst hat sich im Laufe unserer Unter-
suchung wesentlich geändert. Wir fanden zwei vollkommen andersgeartete,
1. Vgl. Piettes Berichterstattung in l’Anthropologie 1895. La Station de Brassempouy.
 
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