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VÖLKER- UND KULTURWELLEN
aus dem Süden vertrieben oder wenigstens unterdrückt: die mykenische Kunst
tritt, als Folge der seit der ersten spätminoischen Periode einsetzenden Koloni-
sierung Kretas auf dem Festland, ihre Herrschaft an mit dem ganzen Formen-
schatz einer ausgereiften naturalistischen Kunst, die ihrerseits ohne eine innige
Fühlung mit der uralten orientalisch-ägyptischen Kunsttradition undenkbar
wäre. Hier, wo wir es mit einer Kolonisation, mit dieser ganz speziellen Form
südlicher Ausstrahlung zu tun haben, handelt es sich nicht um eine langsame
Aneignung, um einen Spannungsausgleich, sondern um eine unmittelbare Ver-
pflanzung, und so entsteht eine Kluft, wie sie größer kaum denkbar wäre. Und
nun erfolgt der zweite Entwicklungssprung, allerdings jetzt rückwärts: die kata-
strophale Vernichtung der kretisch-mykenischen Kultur durch die Wellen der
vom Norden einbrechenden Barbaren, derDorier. Ob die Dorier selber dieTräger
des neuen Stils gewesen sind, oder ob dieser bloß als das lokal verschiedene
Wiederaufleben einer alteinheimischen Kunstübung zu betrachten ist, scheint
in diesem Zusammenhang nicht das wichtige. Auf jeden Fall entsteht von neuem
ein geometrisch-ornamentaler Stil (Dipylon und verwandte Gruppen), der,
wenn er sich auch zum Teil die Errungenschaften der mykenischen Töpferkunst
aneignet — Firnis, Verarbeitung naturalistischer Motive — doch einen ebenso
jähen Rückschritt bedeutet, wie die mykenische Kunst ein Aufschwung war.
Dann setzt eine zweite fremde Welle aus dem Orient ein, und erst von da an,
d. h. mit dem Beginn der historischen Zeit, stabilisiert sich die Lage und ist
von einer gesetzmäßigen, kontinuierlichen Entwicklung zu sprechen. Eigenarti-
ger noch gestaltete sichdieLage in Nordgriechenland, woWaceundThompson
sogar drei aufeinanderfolgende Invasionen aus dem Nordenunterscheiden wollen,
deren letzte den Vorläufer der bekannten geometrischen Stilarten brachte1.
Daß es unter diesen Umständen nur möglich ist, die Aufeinanderfolge
der verschiedenen Stilgruppen festzustellen, dagegen von einer Auseinander-
folge, von einer Entwicklung der Kunstformen keine Rede sein kann, ist
ohne weiteres klar. Aber mag auch das hier gewählte Beispiel besonders kraß
sein, weil die beiden entgegengesetzten Bewegungen mit so elementarer Gewalt
aufeinanderprallten, so ist doch jedem Vorgeschichtsforscher bekannt, daß wir
über das ganze ausgedehnte Gebiet vom Mittelmeer und Kleinasien bis Nord-
deutschland fortwährend mit diesem stark in die Entwicklung eingreifenden
Völkerwellen aus dem Norden und Kultureinflüssen aus dem Süden bzw. Süd-
osten zu rechnen haben. In Mitteleuropa, das sich als die klassische Ausgleichs-
zone herausstellen wird, werden wir beide Erscheinungen von der jüngeren
Steinzeit an kennen lernen. Auch dort finden wir diese eigenartige, leicht irre-
führende Verzähnung des Südens mit seinen fortgeschrittenen Formen und des
konservativen Nordens, dieses wechselnde Übereinandergreifen artfremder Stil-
gruppen, demzufolge Formen, die, stilkritisch betrachtet, jünger erscheinen,
chronologisch sehr wohl älter sein können2.
1. Wace and Thompson, Prehistoric Thessaly. 1912.
2. Wer von den mitteleuropäischen Kunsterscheinungen ausgeht, wird deshalb nie im-
stande sein, die Struktur der vorhistorischen Kunstentwicklung auch nur in den
VÖLKER- UND KULTURWELLEN
aus dem Süden vertrieben oder wenigstens unterdrückt: die mykenische Kunst
tritt, als Folge der seit der ersten spätminoischen Periode einsetzenden Koloni-
sierung Kretas auf dem Festland, ihre Herrschaft an mit dem ganzen Formen-
schatz einer ausgereiften naturalistischen Kunst, die ihrerseits ohne eine innige
Fühlung mit der uralten orientalisch-ägyptischen Kunsttradition undenkbar
wäre. Hier, wo wir es mit einer Kolonisation, mit dieser ganz speziellen Form
südlicher Ausstrahlung zu tun haben, handelt es sich nicht um eine langsame
Aneignung, um einen Spannungsausgleich, sondern um eine unmittelbare Ver-
pflanzung, und so entsteht eine Kluft, wie sie größer kaum denkbar wäre. Und
nun erfolgt der zweite Entwicklungssprung, allerdings jetzt rückwärts: die kata-
strophale Vernichtung der kretisch-mykenischen Kultur durch die Wellen der
vom Norden einbrechenden Barbaren, derDorier. Ob die Dorier selber dieTräger
des neuen Stils gewesen sind, oder ob dieser bloß als das lokal verschiedene
Wiederaufleben einer alteinheimischen Kunstübung zu betrachten ist, scheint
in diesem Zusammenhang nicht das wichtige. Auf jeden Fall entsteht von neuem
ein geometrisch-ornamentaler Stil (Dipylon und verwandte Gruppen), der,
wenn er sich auch zum Teil die Errungenschaften der mykenischen Töpferkunst
aneignet — Firnis, Verarbeitung naturalistischer Motive — doch einen ebenso
jähen Rückschritt bedeutet, wie die mykenische Kunst ein Aufschwung war.
Dann setzt eine zweite fremde Welle aus dem Orient ein, und erst von da an,
d. h. mit dem Beginn der historischen Zeit, stabilisiert sich die Lage und ist
von einer gesetzmäßigen, kontinuierlichen Entwicklung zu sprechen. Eigenarti-
ger noch gestaltete sichdieLage in Nordgriechenland, woWaceundThompson
sogar drei aufeinanderfolgende Invasionen aus dem Nordenunterscheiden wollen,
deren letzte den Vorläufer der bekannten geometrischen Stilarten brachte1.
Daß es unter diesen Umständen nur möglich ist, die Aufeinanderfolge
der verschiedenen Stilgruppen festzustellen, dagegen von einer Auseinander-
folge, von einer Entwicklung der Kunstformen keine Rede sein kann, ist
ohne weiteres klar. Aber mag auch das hier gewählte Beispiel besonders kraß
sein, weil die beiden entgegengesetzten Bewegungen mit so elementarer Gewalt
aufeinanderprallten, so ist doch jedem Vorgeschichtsforscher bekannt, daß wir
über das ganze ausgedehnte Gebiet vom Mittelmeer und Kleinasien bis Nord-
deutschland fortwährend mit diesem stark in die Entwicklung eingreifenden
Völkerwellen aus dem Norden und Kultureinflüssen aus dem Süden bzw. Süd-
osten zu rechnen haben. In Mitteleuropa, das sich als die klassische Ausgleichs-
zone herausstellen wird, werden wir beide Erscheinungen von der jüngeren
Steinzeit an kennen lernen. Auch dort finden wir diese eigenartige, leicht irre-
führende Verzähnung des Südens mit seinen fortgeschrittenen Formen und des
konservativen Nordens, dieses wechselnde Übereinandergreifen artfremder Stil-
gruppen, demzufolge Formen, die, stilkritisch betrachtet, jünger erscheinen,
chronologisch sehr wohl älter sein können2.
1. Wace and Thompson, Prehistoric Thessaly. 1912.
2. Wer von den mitteleuropäischen Kunsterscheinungen ausgeht, wird deshalb nie im-
stande sein, die Struktur der vorhistorischen Kunstentwicklung auch nur in den