NEUES EINSTRÖMEN NATURALISTISCHER FORMEN
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vom Träger als ein ständiges Moment die ganze Entwicklung der nordischen
ornamentalen Kunst begleitet und besonders in den Spätphasen der Entwick-
lungsperioden der Vertrag zwischen Kunstform und Zweckform, Ornament und
Träger, scheinbar gelöst wurde, erhielt diese Kunst doch immer wieder neues
Leben und eine neue Daseinsberechtigung aus einer erneuerten, sei es auch ver-
änderten Beziehung zu dem Boden, der sie einmal erzeugt hatte. Jetzt, in der
dritten Phase der dritten Entwicklungsperiode, scheint der Vertrag endgültig
gekündigt zu werden. Damit verlor die altnordische Kunstform aber die innere
Beziehung zu der Kraftquelle, aus der sie bis zuletzt ihre Nahrung geschöpft,
so frei sie sich ihr gegenüber auch benommen hatte.
Neues Einströmen naturalistischer Formen. Ornamentale Bastardgruppen
der Übergangszeit zum Mittelalter. Das Ende der dritten Entwicklungs-
periode setzt auch unserer Betrachtung der altnordischen Kunst eine Grenze.
Was der Auflösung der germanischen Tierornamentik folgte, ist eine altbekannte
Erscheinung, nämlich das erneute Einströmen naturalistischer Formen aus dem
Süden. Daß dieser Süden diesmal an den weit vorgeschobenen Posten in Irland,
dem west- und mitteleuropäischen Karolingerreich und im Orient ein höchst
verschiedenartiges und verändertes Gesicht trägt, ändert nichts an dem uralten
Verhältnis zu der nordischen Kunst. Das Erscheinen von orientalischem Blatt-
werk, Vogelgestalten, heraldisch gepaarten Tieren, die den Weg vom Südosten,
anscheinend Persien, quer durch Rußland nach dem Norden fanden1, der reißen-
den Tiere der skythisch-permischen Kunst2, der karolingischen Blatt-und Tier-
ornamentik, endlich der irischen Tiergestalten, bedeutet nur den letzten An-
sturm einer, auf der Grundlage südlicher, imitativer Kunst entstandenen Orna-
mentik gegen die in abstrakten, rein geistigen Formen denkende Kunst des
Nordens. Nur fehlten jetzt dieser nordischen Kunst alle Vorbedingungen zu
einer restlosen Aneignung, Entspezialisierung und Neuspezialisierung der ein-
gedrungenen naturalistischen Formen.
So entsteht bei den Nordgermanen diese eigentümliche, halb naturalistische,
halb ornamentale Mischkunst, die der irischen und karolingischen und wohl
auch der spätorientalischen Ornamentik im Wesen verwandt und mit diesen
den bekannten nord-südlichen Bastardgruppen begrifflich an die Seite zu stellen
ist. Schon an den erwähnten gotländischen Bügelfibeln (Abb. 52) erscheinen
diese fremden Elemente, wildverrenkte Tiere oder nur Gliedmaßen, die sich in
der naturalistischen Ausbildung der Details sofort erkennen und scharf von der
alten germanischen Tieromamentik unterscheiden lassen. An den Metallbe-
schlägen, den Kleeblatt- oder schildförmigen Spangen usw. der Wikingzeit
herrscht ein seltsam erregtes Leben von Vierfüßlern, die mit den natürlich ge-
bildeten Tatzen um sich schlagen und sogar den Rand umklammern (Abb. 53),
mit den gespensterhaften Affenköpfchen überall aus der Fläche hervorglotzen
oder sich sogar mit Kopf und Rücken vohplastisch aus ihr emporrichten: kaum
heimisch, erheben sich die fremden Tiere schon gegen ihren Träger (vgl. Salin,
1. Arne, in der Montelius-Festschrift.
2. Appelgren, ebenda.
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vom Träger als ein ständiges Moment die ganze Entwicklung der nordischen
ornamentalen Kunst begleitet und besonders in den Spätphasen der Entwick-
lungsperioden der Vertrag zwischen Kunstform und Zweckform, Ornament und
Träger, scheinbar gelöst wurde, erhielt diese Kunst doch immer wieder neues
Leben und eine neue Daseinsberechtigung aus einer erneuerten, sei es auch ver-
änderten Beziehung zu dem Boden, der sie einmal erzeugt hatte. Jetzt, in der
dritten Phase der dritten Entwicklungsperiode, scheint der Vertrag endgültig
gekündigt zu werden. Damit verlor die altnordische Kunstform aber die innere
Beziehung zu der Kraftquelle, aus der sie bis zuletzt ihre Nahrung geschöpft,
so frei sie sich ihr gegenüber auch benommen hatte.
Neues Einströmen naturalistischer Formen. Ornamentale Bastardgruppen
der Übergangszeit zum Mittelalter. Das Ende der dritten Entwicklungs-
periode setzt auch unserer Betrachtung der altnordischen Kunst eine Grenze.
Was der Auflösung der germanischen Tierornamentik folgte, ist eine altbekannte
Erscheinung, nämlich das erneute Einströmen naturalistischer Formen aus dem
Süden. Daß dieser Süden diesmal an den weit vorgeschobenen Posten in Irland,
dem west- und mitteleuropäischen Karolingerreich und im Orient ein höchst
verschiedenartiges und verändertes Gesicht trägt, ändert nichts an dem uralten
Verhältnis zu der nordischen Kunst. Das Erscheinen von orientalischem Blatt-
werk, Vogelgestalten, heraldisch gepaarten Tieren, die den Weg vom Südosten,
anscheinend Persien, quer durch Rußland nach dem Norden fanden1, der reißen-
den Tiere der skythisch-permischen Kunst2, der karolingischen Blatt-und Tier-
ornamentik, endlich der irischen Tiergestalten, bedeutet nur den letzten An-
sturm einer, auf der Grundlage südlicher, imitativer Kunst entstandenen Orna-
mentik gegen die in abstrakten, rein geistigen Formen denkende Kunst des
Nordens. Nur fehlten jetzt dieser nordischen Kunst alle Vorbedingungen zu
einer restlosen Aneignung, Entspezialisierung und Neuspezialisierung der ein-
gedrungenen naturalistischen Formen.
So entsteht bei den Nordgermanen diese eigentümliche, halb naturalistische,
halb ornamentale Mischkunst, die der irischen und karolingischen und wohl
auch der spätorientalischen Ornamentik im Wesen verwandt und mit diesen
den bekannten nord-südlichen Bastardgruppen begrifflich an die Seite zu stellen
ist. Schon an den erwähnten gotländischen Bügelfibeln (Abb. 52) erscheinen
diese fremden Elemente, wildverrenkte Tiere oder nur Gliedmaßen, die sich in
der naturalistischen Ausbildung der Details sofort erkennen und scharf von der
alten germanischen Tieromamentik unterscheiden lassen. An den Metallbe-
schlägen, den Kleeblatt- oder schildförmigen Spangen usw. der Wikingzeit
herrscht ein seltsam erregtes Leben von Vierfüßlern, die mit den natürlich ge-
bildeten Tatzen um sich schlagen und sogar den Rand umklammern (Abb. 53),
mit den gespensterhaften Affenköpfchen überall aus der Fläche hervorglotzen
oder sich sogar mit Kopf und Rücken vohplastisch aus ihr emporrichten: kaum
heimisch, erheben sich die fremden Tiere schon gegen ihren Träger (vgl. Salin,
1. Arne, in der Montelius-Festschrift.
2. Appelgren, ebenda.