„Oh nein,“ kam es zurück; „ganz ernsthaft ich beneide Sie, weil
Sie Architekt sind, Architektur ist die einzige Kunst, die in den letz-
ten 25 Jahren fortgeschritten ist.“ Ich sah mich um. Und richtig.
Hinter den form- und wesenlosen Nebeln, die mich umgaben,
tauchte wie eine Erscheinung der mächtige Schaft des Woolworth-
Hauses auf, schimmerten die opalisierenden Säulen des Lincoln-
Denkmals, lächelten anmutig und feierlich zugleich die Kreuzgänge
auf den Höfen der Hochschule von Vale. —
Seltsam. Wir haben keine Literatur über die Geschichte unserer
Baukunst. Und doch halten wir eine Geschichte, eine stetige Über-
lieferung und eine Entwicklung. Wir alle kennen die erste stärkere
Kundgebung auf diesem Wege, den „ColoniaPstvle oder „Georgian“,
wie wir ihn in seiner letzten Stufe auch zu nennen pflegen. Seine
schlanken Säulen und Bogengänge, sein verfeinertes Zierat sind
uns alte liebe Bekannte — und: es ist ein wertvoller und anständiger
Stil. Er ist wie ein letzter Ausläufer der Renaissance. Die Sonne,
die 1420 so glorreich in Italien aufging, deren Erühlicht in Frank-
reich leuchtete, deren späte Strahlen die Schlösser und Land-
sitze des alten England vergoldeten, sank 400 Jahre später in
schwächerer, aber entzückend zarter Dämmerung in den 13 Siede-
lungen unseres östlichen Amerikas.
Es ist, als wäre mit dem Colonial auch der gute Geschmack
gestorben. Auf seinem Grabe wuchs eine Blume — sehr ähnlich
dem Acanthus , die wir „Greek Revival“ nennen. Da sprossten
denn in unserer Wildnis neue Karthagos, Roms und Uticas hervor;
der Planwagen, in dem das geladene Gewehr und der Pflug lagen,
nahm Parthenonsäulen und das Denkmal des Lysikraies mit sich
gen Westen. Die Häuser, die zwischen 1825 und 1860 bei uns ge-
baut wurden, ob aus Holz, Ziegel oder Stein, ob Wohnhaus, Kirche
oder Staatsverwaltung, alle wollten griechisch werden.
Dann kam es fürchterlich. Ich wei^ nicht, ob irgendein Dia-
gnostiker je den Herd entdecken wird, von dem aus etwa um die
50 herum jene entsetzensvolle Seuche zuerst Europa heimzusuchen
begann? Uns brachten sie Reisende in den 60er Jahren. Unsere
Eisenbahnen sorgten für weite Verbreitung. — Uber 25 Jahre wütete
diese Pest, der zuerst der Greek Revival in der Architektur, dann
nacheinander die Schönheit der Malerei und Skulptur, der Ge-
schmack im Anzug und der Anstand im Benehmen zum Opfer fielen.
Zu den Symptomen der Krankheit gehörten die Tournüre, Backen-
bärte mit wehenden Enden, Faust und Gretchen in Elfenbeinmasse,
geschwungene Sofas mit Muschelaufsaiz, MakaHbukelts in Ala-
bastervasen, P. T. Barnums Rummelplätze und der Börsenkrach von
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Sie Architekt sind, Architektur ist die einzige Kunst, die in den letz-
ten 25 Jahren fortgeschritten ist.“ Ich sah mich um. Und richtig.
Hinter den form- und wesenlosen Nebeln, die mich umgaben,
tauchte wie eine Erscheinung der mächtige Schaft des Woolworth-
Hauses auf, schimmerten die opalisierenden Säulen des Lincoln-
Denkmals, lächelten anmutig und feierlich zugleich die Kreuzgänge
auf den Höfen der Hochschule von Vale. —
Seltsam. Wir haben keine Literatur über die Geschichte unserer
Baukunst. Und doch halten wir eine Geschichte, eine stetige Über-
lieferung und eine Entwicklung. Wir alle kennen die erste stärkere
Kundgebung auf diesem Wege, den „ColoniaPstvle oder „Georgian“,
wie wir ihn in seiner letzten Stufe auch zu nennen pflegen. Seine
schlanken Säulen und Bogengänge, sein verfeinertes Zierat sind
uns alte liebe Bekannte — und: es ist ein wertvoller und anständiger
Stil. Er ist wie ein letzter Ausläufer der Renaissance. Die Sonne,
die 1420 so glorreich in Italien aufging, deren Erühlicht in Frank-
reich leuchtete, deren späte Strahlen die Schlösser und Land-
sitze des alten England vergoldeten, sank 400 Jahre später in
schwächerer, aber entzückend zarter Dämmerung in den 13 Siede-
lungen unseres östlichen Amerikas.
Es ist, als wäre mit dem Colonial auch der gute Geschmack
gestorben. Auf seinem Grabe wuchs eine Blume — sehr ähnlich
dem Acanthus , die wir „Greek Revival“ nennen. Da sprossten
denn in unserer Wildnis neue Karthagos, Roms und Uticas hervor;
der Planwagen, in dem das geladene Gewehr und der Pflug lagen,
nahm Parthenonsäulen und das Denkmal des Lysikraies mit sich
gen Westen. Die Häuser, die zwischen 1825 und 1860 bei uns ge-
baut wurden, ob aus Holz, Ziegel oder Stein, ob Wohnhaus, Kirche
oder Staatsverwaltung, alle wollten griechisch werden.
Dann kam es fürchterlich. Ich wei^ nicht, ob irgendein Dia-
gnostiker je den Herd entdecken wird, von dem aus etwa um die
50 herum jene entsetzensvolle Seuche zuerst Europa heimzusuchen
begann? Uns brachten sie Reisende in den 60er Jahren. Unsere
Eisenbahnen sorgten für weite Verbreitung. — Uber 25 Jahre wütete
diese Pest, der zuerst der Greek Revival in der Architektur, dann
nacheinander die Schönheit der Malerei und Skulptur, der Ge-
schmack im Anzug und der Anstand im Benehmen zum Opfer fielen.
Zu den Symptomen der Krankheit gehörten die Tournüre, Backen-
bärte mit wehenden Enden, Faust und Gretchen in Elfenbeinmasse,
geschwungene Sofas mit Muschelaufsaiz, MakaHbukelts in Ala-
bastervasen, P. T. Barnums Rummelplätze und der Börsenkrach von
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