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Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Der Hildesheimer Zentralfriedhof — Hannover: Niedersächsisches Landesverwaltungsamt, Heft 17.1998

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Der gestaltete Friedhof als Bauaufgabe
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https://doi.org/10.11588/diglit.51148#0020
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daher umso erstaunlicher, daß sich die reine Landschaftsidee erst
gegen Ende des Jahrhunderts durchzusetzen vermochte,
während als realisierte Planung zunächst weiterhin die Geometrie
dominierte, welche - stets umfriedet - immer vom Alltag ausge-
grenzt blieb70.
Landschaftsgestaltung und Friedhof
im ausgehenden 19.Jh.
Noch im fortgeschrittenen 19Jh. wurde der reine Landschafts-
garten als auch seine Kombination mit traditionell-geometrischen
Quartieren trotz seiner offensichtlich gestalterischen Vorzüge nur
verhalten als Friedhofskonzept anempfohlen. Seine Kritiker zo-
gen nach wie vor die rein geometrische Variante vor, da diese
neben Klarheit und Stringenz in der Formensprache vor allem
günstigere wirtschaftlich-finanzielle Konditionen versprach, da
stereotyp abgesteckte Flächen zwangsläufig ökonomischer zu
belegen sind als großzügige, weitestgehend freibelassene Areale
(Vorzug einer gesteigerten „Nettobestattungsfläche"). Auch
wenn die Befürworter des landschaftlichen bzw. Parkfriedhofes
immer wieder die verschiedenen Möglichkeiten betonten71, der-
artig gestaltete Friedhöfe nach Ablauf der Belegungsfrist umzu-
nutzen und in den Stadtraum in einer Neukonzeption als Park-
fläche miteinzubeziehen, überwog die Kritik, da man diesen Ge-
staltungen immer vehemente Weitläufigkeit zu Lasten der Bele-
gungsdichte unterstellen konnte.
Wie bereits oben angeführt72, hatte die Tradition integrierter
Bestattungsplätze bereits Mitte des 18Jh. deutliche Kritik erfah-
ren, welche damals vor allem auf hygienische Aspekte zurückzu-
führen war. Als sie nach gut einhundert Jahren infolge der erstar-
kenden Wissenschaften und zunehmender gesundheitlicher Be-
fürchtungen erneut aufkeimte, hatten die Städte ihre Friedhöfe
bereits wieder „...eingeholt, die man mit soviel Mühe nach
außerhalb verlegt hatte"73. Daher wurde neben einer erneuten
sowie stadtentfernteren Auslagerung auch die moderne Zentrali-
sierung diskutiert, um florierende Negativimpressionen und Visio-
nen einer von Friedhöfen eingeschnürten Stadt von vornherein
zu entkräften.
Erstaunlicherweise wurde diese Entscheidung nicht mehr ge-
samtheitlich getragen. Vielmehr wurden nun verstärkt Stimmen
laut, die auf eine gewisse Nähe zum Friedhof nicht mehr verzich-
ten wollten74. Damit hatte der Städter der Jahrhundertwende sei-
ne „...Vorliebe für den Besuch der Friedhöfe mit der gesamten
Familie..." gefunden. „Das ist sein liebster Spazierweg an seinen
Ruhetagen. Es ist sein Trost in den Tagen seiner Herzensnot"75
argumentiert Ph. Aries nach Durchsicht zahlreicher schriftlicher
Quellen und Romane wie u. a. „La femme pauvre" von Leon
Bloy (1897), der vor allem eine „leidende Beschaulichkeit" for-
muliert. Hier finden wir in verschiedenen Textstellen alle Argu-
mente versammelt, die den Aufschwung des Parkfriedhofes und
schließlich auch dessen Umsetzung in Hildesheim maßgeblich
forciert haben werden:
1. )Das neue Bedürfnis nach einem privaten (tabuisierten) Rück-
zugsort als zentrale Stätte und
2. )einem öffentlichen Raum als stimmungsvollem (kollektiven)
Rahmen der Verinnerlichung, ungeachtet dessen, ob die
Todesauseinandersetzung durch verinnerlichend-leidende
Kontemplation (Grab als Ort des frommen Trostes und süßer
Wehmut) oder aber nüchtern-aktive Bewältigung als eine rea-
litätsnahe Form der Kontemplation (Grab als Ort des erinnern-
den Familiengedächtnisses) erlebt wurde76.
„Es bedeutet für sie immer eine Erleichterung, dort [auf dem
Friedhof] spazieren zu gehen. Sie sprechen mit den Toten, und
die Toten sprechen mit ihnen. Ihr Sohn Lazare und ihr Freund
Marchenais liegen da, und die beiden Gräber werden von ihnen
liebevoll gepflegt. Manchmal gehen sie zu einem anderen Fried-
hof [...]. Aber das ist ein langer Weg, der ihnen aus Zeitgründen
häufig nicht möglich ist, und der große Ruheplatz von Bagneux,

der nur zehn Minuten von ihrem Haus entfernt liegt, gefällt
ihnen deshalb, weil er der Friedhof der Armen ist"77.
Deutlich wird hier neben dem Wunsch nach regelmäßigen
Friedhofsbesuchen und Spaziergängen das eigene Bedürfnis nach
Grabpflege und stiller Zwiesprache angesprochen, hier allerdings
die sensibel-verinnerlichende Form; berücksichtigt man weiterhin,
daß infolge explodierender Bevölkerungszahlen, der Städteaus-
dehnung gegen Süden und den neuesten hygienischen Erkennt-
nissen lediglich anonyme Großfriedhöfe in Randlage realistisch
erschienen, wird verständlicher, warum fortan der landschaftliche
Stil ein stärkeres Gewicht einnahm bzw. den Wünschen der fla-
nierenden Hinterbliebenen weitmehr entsprach als ein starres
geometrisches, monotones Bestattungssystem78.
Darüber hinaus wird die Rezeption des Landschaftsprinzips
auch durch einen mentalitätsgeschichtlich interessanten Aspekt
gefördert worden sein, der sowohl die leidend Nachdenklichen
als auch die zukunftsorientiert Denkenden gleichermaßen ange-
sprochen haben muß: So scheint sich das den landschaftlichen
Friedhof kennzeichnende System labyrinthisch verlaufender, ge-
wundener Wege damals sehr treffend dem Gemüt der Zeit an-
genähert zu haben, sich in langen Spaziergängen auf dem Fried-
hof ergehen zu wollen („...Erleichterung dort spazieren zu ge-
hen..."); ganz folgerichtig wurde es bereits von C. B. Hohlfeld
mit dem irdischen Leidensweg als Allegorie des menschlichen Le-
bens gleichgesetzt79. So wie vor gut achtzig Jahren bestimmte
Gewächse als Inbegriff „süßer Wehmut" auf geradlinigen We-
gen angepflanzt wurden80, so waren es nun ganze Wegkonzep-
tionen, Platzgestaltungen und weitläufige Baumgruppen, die
dem Besuchenden ein angemessenes, jedoch weniger romanti-
sierendes Ambiente gestalteten: Zur Intimität und Liebe des Gra-
bes berichtet der Roman L. Bloys weiter in der Person Leopolds81:
Er pflegt das Grab „...trunken vor Freude, wenn er eine neue
Rose, eine neue Kapuzinerkresse findet..., besprengt sie mit zar-
ter Hand und vergißt darüber die Welt, verspätet sich ganze
Stunden, vor allem am kleinen weißen Grab seines Kindes, mit
dem er liebevoll spricht...".
Die ersehnte Pflege des Grabes, die eine Intensivierung der
Gedanken, die innere Vergegenwärtigung des Verstorbenen erst
ermöglichte, umschreibt den Wunsch nach körperlicher Nähe,
wie er vor allem im Zuge liebevoller Verinnerlichung der Trauer
entsteht. Diese intensive, aber örtlich gebundene Auseinander-
setzung ist an sich jedoch auch zwiespältig zu bewerten, da sie
nicht selten belastend wirkte und den Besuchenden allzu schwer-
mütig ins Leben entließ. Auch aus diesem Aspekt heraus ist zu
verstehen, warum die traditionelle Form der starr-geometrischen
und letztlich als Versinnbildlichung des Todes empfundene Fried-
hofsanlage82 der heiter-stimmungsvollen Version des Parkfried-
hofs unterliegen mußte, auch wenn sich dieser nicht vollends
vom Tradierten zu lösen vermochte. So finden sich auch in Hil-
desheim die alten geometrischen Gestaltungen im Apsidialbe-
reich, der den Besuchenden gewöhnlich empfing und mit den
wesentlichsten an diesem Ort konzentrierten Funktionen eine er-
ste Orientierung und Einstimmung erleichterte, bevor er ihn in
die weitläufige Landschaft entließ. In Anbetracht seiner frühen
Zeitsetzung und Planungsgeschichte ist der Hildesheimer Zentral-
friedhof daher als zumindest zeitgemäß, wenn nicht sogar als
überaus fortschrittlich anzuführen83, insofern dieser Stil als regel-
rechtes Friedhofskonzept erst gegen 1880 seinen Ausgang
nahm, bevor er nach kurzer Blüte - zu Beginn des 20.Jh. immer
stärker von neuen Tendenzen verdrängt - allmählich in Verges-
senheit geriet. Dennoch fehlen in der Umsetzung die andernorts
wesentlich stärker eingesetzten, den Bereich zu einer malerischen
Landschaft umgestaltenden Staffagen wie Teiche, Erhebungen
und lockere Bepflanzungen ebenso wie die markanten Platzan-
lagen der strengen geometrischen Form, wie sie den klassischen
Vertretern des „Gemischten Stils" zu eigen sind.

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