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Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Hrsg.]; Institut für Denkmalpflege [Hrsg.]; Königfeld, Peter [Bearb.]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Das holzsichtige Kunstwerk: zur Restaurierung des Münstermann-Altarretabels in Rodenkirchen/Wesermarsch — Hameln: Niemeyer, Heft 26.2002

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Ludwig Münstermann und das Rodenkirchener Altarretabel

vermag der Bildhauer aus dem Holz die Formen zu schlagen, die
durch die Farben des Faßmalers den Eindruck gänzlich anderer
Materialien erwecken. In diesen Fähigkeiten, einen Werkstoff so
zu bearbeiten, daß er einem anderen zum Verwechseln gleicht,
ist aber nicht nur ein Lob der göttlichen Allmacht zu finden. Zu-
gleich werden auf diese Weise die gottähnlichen Fähigkeiten des
Menschen betont, die es ihm ermöglichen, aus einem Rohmate-
rial etwas ganz anderes zu formen.121 Gott schöpft aus dem
Nichts, der Mensch schafft durch die Veränderung von Materie.
Das Schaffen von etwas gänzlich Neuem war für die Zeitgenossen
Hinweis genug auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Der
Altar als Berührungspunkt des Göttlichen mit dem Irdischen -
auch in Rodenkirchen gekennzeichnet durch den auf der Bundes-
lade durch die Cherubime angedeuteten Gnadenthron - erhält Ent-
sprechungen im kleineren Maßstab beispielsweise in den Masken.
Auch sie verdeutlichen den Übergang verschiedener Sphären. Bei
ihnen wird in einer Physiognomie das Menschliche mit dem Ani-
malischen und mit dem Pflanzlichen verschmolzen. Diese Natur-
werke verbinden sich am äußeren Umriß wiederum mit Menschen-
werk in Form von Ornament und Architektur.
Die von Johannes Taubert für den Vareler Altar aufgebrachte
Bezeichnung „überdimensionierter Edelsteinaltar" bezieht das
Eingehen der Farbfassung auf die geschnitzte Form ein, in der die
zeitgenössische Juwelenornamentik vorgegeben ist. Diese hatte
ihre Ursprünge im Goldschmiedehandwerk und in der Verehrung
edler Stoffe, in einer mittelalterlichen Tradition, die bis in 17. Jahr-
hundert fortgeführt wurde. Die Bemalung der Werke in Farben,
die Marmor, Ebenholz, Alabaster, Edelstein, Gold und Silber vor-
täuschen sollten, diente der Materialerhöhung und damit der
Aufwertung der Werke.122 Die Fassungen - wie sie am Vareler
Altar nach den Befunden restauriert und rekonstruiert wurde -,
die nahezu vollkommene Illusionen wertvollerer Materialien auf
den Grundmaterialien Stein und Holz entstehen ließen, sollten
nicht vorrangig über den Mangel an edlen Materialien hinwegtäu-
schen. Die Fassung erst verwirklichte den Idealitätsanspruch der
Werke als Zeugnisse der göttlichen Schöpfung. Neben dem Lob
für die von Gott vorgegebene vollkommene Natur stellt die ein-
drucksvolle Illusion an Altären und Kanzeln, an Taufen und Orgel-
prospekten auch die gottebenbildlichen Fertigkeiten des Bildhau-
ers und des Faßmalers dar, das göttliche Werk nachzubilden. Die
Fassung unterstützt die Differenzierung der Schnitzerei und ord-
net sich im Aufbau der skulpierten Anordnung unter (Abb. 15,
vgl. Abb. 8).123 Besonders bei Inkarnaten und vegetabilen Teilen
kann die Differenzierung der Fassung über die geschnitzte Vorga-
be hinausgehen. Der mittelalterlichen Tradition entsprechend ver-
vollkommnete der Faßmaler mit den der Malerei eigenen Mitteln
das Werk des Bildhauers.124 Die Kirchenausstattung Münstermanns
für die Schloßkirche in Varel weist eine solche differenzierte Farb-
fassung auf. Da hier der Auftraggeber über die ausreichenden
Geldmittel verfügte, seine Intentionen bezüglich der Farbfassung
direkt nach der Aufstellung der Werke zu verwirklichen, mag es
statthaft sein, in dem heutigen Erscheinungsbild des Vareler Alta-
res auch die Verwirklichung der gleichermaßen für die anderen
Werke Münstermanns angestrebten künstlerischen Gesamtwir-
kung zu sehen.125
Für die zweite Vorstellung, daß die Werke Münstermanns
zunächst mit einem wenig differenzierten Leimüberzug in den
Kirchen gestanden haben, scheint eine Vielzahl von Befunden
zu sprechen, wie etwa die Fassung 1a am Altar in Rodenkirchen.
Offen bleibt jedoch, ob diese Oberflächenbehandlung von Müns-
termann auf Dauer angelegt war oder ob sie vorwiegend als
Schutzüberzug gedacht war, der - wegen eines möglicherweise
erwarteten längeren Zeitraums bis zur endgültigen Farbfassung -
mit einfachen Mitteln ansprechend gestaltet wurde.


15 Varel, Altar, 1614: Detail - Alabasterrelief mit der Darstellung Martin
Luthers im nördlichen "Flügel", mit einer nach den Befunden ergänzten hoch-
differenzierten polychromen Farbfassung der hölzernen Teile (Aufnahme 1962).

Daß die Kirchengemeinde in Rodenkirchen mit dem weit-
gehend monochromen Erscheinungsbild beim Altar (Fassung 1a),
bei der Kanzel und bei der Taufe, nicht langfristig „zufrieden"
war, belegt die partielle Polychromierung der gesamten Ausstat-
tung im Jahre 1638, die in ihrer Fernwirkung einer differenzierten
Polychromie ähnelte, die aber in ihrer Ausführung wesentlich
weniger kostspielig war als eine Farbfassung wie die des Vareler
Altares.
Auch in Zukunft wird die Frage nach den künstlerischen In-
tentionen des Bildhauers Ludwig Münstermann in Bezug auf die
Art der von ihm bei der Entstehung der bildhauerischen Arbeit
„mitgedachten" Farbfassung bestehen bleiben. Bei weiteren Be-
funduntersuchungen und der Auswertung von Schriftquellen wird
auch die Suche nach älteren oder zeitgenössischen Vergleichsbei-
spielen für monochrome Leimüberzüge weitergehen, die Müns-
termann gekannt haben könnte und die zur Bekräftigung einer
langfristig angelegten künstlerischen Intention beitragen könnten.

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